Der Gottesknecht

Predigt am Karfreitag 2008/2010
Gochsheim, 21.3.2008/SW St. Salvator, 2.3.2010
Text: Jes (52, 13-15) 53, 1-12
Liebe Gemeinde!
Karfreitag. Der schwärzeste Tag im Leben von Jesu Jüngern. So viel Hoffnung hatten sie gesetzt in diesen Jesus. So sicher waren sie gewesen, dass er es ist. Dass er der Messias ist. Der, der Israel wieder aufrichten wird. Der, der die Römer vertreiben wird. Der, der Gottes Reich neu errichten wird. Ein wahrer Nachkomme von David, dem legendären König.

Und nun hängt er da – am Kreuz. Das ist das Ende, so denken sie. In zehn Jahren wird kein Hahn mehr nach im schreien. Keiner wird sich an ihn erinnern. Und sie hatten gedacht, er sei der Messias.

Ich glaube, wir heute können das gar nicht mehr nachvollziehen: Diese tiefe Verzweiflung der Jünger, dieses Verlorensein. Diese Perspektivlosigkeit. Alles weg, was das Leben einmal ausgemacht hat. Jede Hoffnung genommen, dass es jemals wieder besser wird. 
Doch, ich glaube, so etwas kennen manche von uns auch. Meist hat es mit Tod zu tun, oder mit schwerer Krankheit, wenn wir so gar keine Perspektive mehr sehen fürs eigene Leben. Wenn der Ehepartner plötzlich und unerwartet stirbt, oder noch schlimmer: Das eigene Kind. Wenn die Diagnose vom Arzt kommt: Krebs. Bestimmt können Sie diese Liste noch verlängern um Ihre eigenen Erfahrungen in Ihrem Leben.

Den Jüngern damals jedenfalls schien es, als habe Gott selbst keine Perspektive mehr. Da hängt er, den sie für den Sohn Gottes gehalten hatten. Der sich selbst meist als „Menschensohn“ bezeichnet hatte, ein Titel aus dem Buch Daniel für den Retter der Endzeit, also für den Messias. Da hängt er – und ist tot. 

Vielleicht haben sich auch Jesu Jünger damals an die vier Lieder beim Propheten Jesaj erinnert. Seltsame Lieder sind das, die von einem Knecht Gottes sprechen. Eingebunden in das Buch Jesaja irgendwo in den Kapiteln 42 bis 53. Nähme man sie heraus, würde dem Buch Jesaja nichts fehlen. Poetische Texte sind es, voller hebräischer Sprachspiele, voller Andeutungen und voller Rätsel. Und sie erzählen eine Geschichte: Die Geschichte eines Knechts Gottes. Ein Knecht, das war damals zwar ein Arbeiter, doch kein Sklave. Er gehörte mehr oder weniger zur Familie dazu, ist geborgen im Kreis der Familie. Doch dieser Knecht Gottes ist ein seltsamer Knecht, denn: Er tut gar nichts. So heißt es im ersten Gottesknechtslied von ihm: „Er wir nicht schreien und wird nicht die Stimme erheben. Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“

Gar nichts tut dieser Knecht, alles, was geschieht, kommt von Gott. Doch, eines tut er: Er verkündet Gottes Wort. Er „bringt das Rechtsurteil Gottes hinaus“, so lautet die wörtliche Übersetzung. Und er leidet an seinem Auftrag, er wird müde, er verzweifelt an seinem Auftrag. Er berichtet: „Meinen Rücken gab ich den Schlagenden und meine Backen den Verletzern. Mein Gesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ Und doch hält er daran fest, dass Gott ihn retten wird, dass Gott ihm Kraft gibt. Er wird ihm beistehen, er wird ihm die Kraft geben, die er benötigt. Und nun folgt das letzte der vier Gottesknechtslieder. Das längste und bekannteste. Geschrieben fünf bis sechs Jahrhunderte vor Jesus, und doch klingt es, als wären es Jesu Worte. Und so hörten es vielleicht auch Jesu Jünger, in ihrer völligen Verzweiflung, in ihrer Hoffnungslosigkeit. Das so genannte vierte Gottesknechtslied aus Jesaja 52 und 53: 

Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. 14 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt häßlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, 15 so wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken.
53,1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf. 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit.
Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Ein langer Text, liebe Gemeinde, und doch gerade am Karfreitag so passend. Als wäre es auf Jesus hin geschrieben worden – und vielleicht wurde es das ja auch. Jesus auf der anderen Seite kannte sicher dieses Lied. Vielleicht sah er sich sogar selber als der leidende Gottesknecht, der willig und unschuldig für die anderen leidet. Doch das war ein Geheimnis, das er wohl nur seinen Jüngern anvertraute: Dieses Geheimnis, dass er die Erfüllung dieses Gottesknechtslieds als seine ihm von Gott gestellte Aufgabe ansah.

 Dass er sterben musste – ja, das hat er immer wieder angekündigt. Doch niemand hatte ihn wirklich ernst genommen. Doch Jesus, er stirbt nicht nur einfach. Sein Tod ist ein stellvertretender Tod für all die Menschen, die dem Gericht Gottes verfallen wären. Sein Tod, unschuldig, freiwillig und geduldig nach Gottes Willen auf sich genommen, hat dadurch so grenzenlos sühnende Kraft. Es ist Leben aus Gott und mit Gott, das Jesus hingibt. An diesem Leben und an diesem Tod gibt er uns Anteil im Abendmahl, das wir gleich miteinander feiern werden: „Das ist mein Leib, der für ich gegeben wird. Das ist mein Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden“. 

So haben wir Anteil an seinem Tod. Für unsere Sünden ist er in den Tod gegeben. Wir sind frei davon. Doch weiter zu sehen, auf die Auferstehung, auf Ostern, das war den Jüngern noch nicht möglich an diesem Tag. Wir wissen davon, und so ist es für uns nicht nur eine Teilhabe an seinem Tod, sondern auch an seiner Auferstehung. An dem neuen Leben, das aus diesem Tod entspringt. Am ewigen Leben.

Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben, und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.