Predigt zu Silvester: Fürchtet euch nicht - Gott ist euch hold

Liebe Gemeinde!

Es tut mir Leid, Ihnen das sagen zu müssen. Es gab ja schon so viele Weltuntergangsprophezeiungen, die sich alle nicht erfüllt haben, aber diesmal ist es wirklich und eindeutig nachweisbar wahr: Heute ist das absolute Ende! Der allerletzte Tag. Das Jahr 2018 wird es nicht geben. Na ja, jedenfalls nicht für meinen alten Büro-Datumsstempel. Der hat nämlich nur die Jahre 2006 bis 2017, wie ich letzte Woche etwas verblüfft festgestellt habe. Jetzt kann ich also entweder mit 2006 wieder anfangen oder mir einen neuen kaufen, ist ja auch kein großes Problem. Oder ich mache erst mal weiter mit dem 32. bis 99. Dezember, aber das wäre wohl eher verwirrend. Also: Das Ende ist nah!

Aber mal ehrlich: Wie wäre das, wenn es keine neuen Stempel mehr gäbe? Wenn heute wirklich der allerletzte Tag Ihres Lebens wäre?

Wenn Sie zurückblicken auf Ihr bisheriges Leben, heute natürlich besonders auf das gerade zu Ende gehende Jahr: Was ist gelungen? Worauf sind Sie stolz? Was erfüllt Sie mit Freude, was mit Trauer? Was ist gelungen, was bleibt offen und unerledigt?
Ich kenne Ihre Gemeinde leider kaum, bin ja nur zu Gast heute. Was hat Sie bewegt?

Vielleicht denken Sie an einen Menschen, mit dem Sie noch letztes Jahr feierten, und der heute nicht mehr da ist. Vielleicht ist auch ein neues Leben, einer neuer Mensch hinzugekommen. 

Vielleicht hat sich für Sie eine neue Perspektive in Ihrem Leben aufgetan – oder ein Traum ist geplatzt. 

Vielleicht ist Ihnen eine große Sorge genommen worden – oder eine neue ist dazugekommen, die Sie nachts kaum schlafen lässt.

Wie war Ihr Jahr 2017? 


Ich als Gast sehe ja nur ein paar Eckdaten der Gemeinde, und auch die sind schon turbulent genug. Die Verabschiedungen von Vikarin Bachmann und Pfarrersehepaar von Rotenhan. Die Einführung von Pfarrer Mulugeta Giragn Aga. Das Kirchenasyl hier im Gut Deutschhof, das in diesen Tagen enden musste, weil die Räumlichkeiten verkauft wurden. Die Sperrung von St. Lukas wegen Asbest. 

Ja, und auch der Abschied von Menschen, die sich um die Gemeinde verdient gemacht haben. Dekan i.R. Diegritz, der viele Gottesdienste gestaltet hat. Dr. Veit Stoßberg, der früher Mitglied des Kirchenvorstands war. Paul Leitz, der die Gemeinde in Bauangelegenheiten beriet, und das waren ja nicht wenige. Vermutlich müsste ich noch andere Namen nennen. Sie wissen sie besser als ich.

Unser heutiger Predigttext erzählt uns aber nicht von einem Rückblick, sondern von einem Aufbruch. Er erzählt davon, wie das Volk Israel aus Ägypten auszieht. Von Sukkot aus, am Rand der Sinai-Halbinsel, macht es sich auf den Weg. Ein großer Einschnitt ist das. Für das ganze Volk. Für jeden einzelnen, der dabei ist. Sogar räumlich: Bis heute ist diese Halbinsel mehr oder weniger getrennt vom Rest Ägyptens. Am 23. Dezember erst wurden zwei Tunnel eröffnet, die die Sinai-Halbinsel endlich besser mit Ägypten verbinden sollen. Doch damals, da war es sicher ein ganz deutlicher Einschnitt: Wir beginnen etwas völlig Neues! In einem neuen Land!

Ex 13, 20-22: So zogen sie aus von Sukkot und lagerten sich in Etam am Rande der Wüste. 21 Und der HERR zog vor ihnen her, am Tage in einer Wolkensäule, um sie den rechten Weg zu führen, und bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten, damit sie Tag und Nacht wandern konnten. 22 Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht.

„Und der Herr zog vor ihnen her.“ Ach ja. Wäre das schön. Endlich mal Orientierung bekommen im Leben. Völlige Klarheit darüber, wie es weitergehen soll. Keinen einzigen Moment ohne diese sichtbare Führung. „Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk bei Tage noch die Feuersäule bei Nacht“. Der Datumsstempel Gottes endete niemals, bis heute nicht. Gottes Versprechen hat kein Verfallsdatum. Bei allen Schwierigkeiten, die sich auf dem Weg ergaben: Gott war den Israeliten sichtbar wohlgesonnen. Gott war ihnen hold.

Was die Israeliten damals noch nicht wussten: Leicht wurde es trotzdem nicht. 40 Jahre würden sie auf Wanderschaft sein. 40 Jahre ohne eine Heimat. 40 Jahre auf der Flucht vor dem unerträglichen Leben, das sie in Ägypten hinter sich gelassen hatten. Wie würden sie sich noch manches Mal sehnen nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“, zurück an den Ort, von dem sie geflohen waren! 

Was für eine Prüfung. Vierzig Jahre durch die Wüste. Wie alt waren Sie vor vierzig Jahren, wenn Sie überhaupt schon so alt sind? Also Silvester 1977. Was haben Sie erlebt in dieser langen, langen Zeit? Haben Sie Führung erlebt und Orientierung? Was haben Sie verloren, was gefunden in dieser Zeit? Wie oft haben Sie sich zurückgesehnt, nach dem, was früher war, nach der Geborgenheit Ihrer Kindheit vielleicht? War Gott Ihnen hold in dieser Zeit? War er sichtbar da in Ihrem Leben – oder hat er sich eher versteckt?

Aber zurück zu den Israeliten. Bei aller Nähe, bei aller Führung: Dieser Gott, dem sie sich da anvertrauten, der war oft, sehr oft, auch für das Volk Israel unverständlich. Unverfügbar. Er war nicht einfach nur der „liebe Gott“, der alles sofort gut macht. Er war eine Wolke. Sichtbar, aber nicht greifbar. Zerstörerisch, mächtig und heiß wie Feuer, wenn man ihm zu nahe kommt. Dunkel und bedrohlich wie eine Wolke am Tag. Und doch gleichzeitig: Immer da. Immer nahe. Immer das Zeichen, das Orientierung gab.
Wie das Volk Israel, so stehen auch wir an einer Grenze. Heute. Wir stehen an der Grenze zwischen den zwei Jahren 2017 und 2018. Wir blicken nach vorne und fragen uns: Was kommt da auf uns zu?

Wohin wird uns diese Reise ins neue Jahr führen? Was werden wir erleben? Wird Gott uns hold sein in diesem Jahr? Wird er sichtbar und spürbar sein – oder eher versteckt? 

Mein Eindruck ist, dass immer mehr Menschen vor allem ein Gefühl haben bei diesem Blick nach vorne: Angst. Angst vor noch mehr Krieg. Angst vor den Fremden, die zu uns kommen. Dabei haben diese Fremden doch selbst nur aus Angst ihre Heimat verlassen. Weil sie Angst haben vor dem, was dort geschieht. 

Angst davor, der Islam könnte uns überrollen. Angst vor dem Klimawandel, vor persönlichen Enttäuschungen, vor einfach allem.
Diese Angst, sie kann übermächtig werden in einem Menschen. Wer so viel Angst hat, der ist nicht mehr empfänglich für die Botschaft: „Gott ist dir hold!“. Wer so viel Angst hat, der will Gott mit Gewalt in unsere Welt zwingen, das „christliche Abendland“ bewahren und entfernt sich dabei doch von Gottes Willen. Wer so viel Angst hat, dem macht auch Gottes Unvefügbarkeit Angst. Wir sehen ja nun mal keine Feuersäule mehr am Himmel, die uns Orientierung gibt. Wer Angst hat und wem dabei die Orientierung fehlt, der beruft sich gerne auf das, was früher mal war. Die gute alte Zeit, die in der Erinnerung so verklärt wird. Den Israeliten wird das ja auch noch passieren, dass sie die Fleischtöpfe Ägyptens zurücksehnen. Und bei uns? „Ja, früher, da herrschte noch Zucht und Ordnung.“ Und bei Hitler sei ja auch nicht alles schlecht gewesen, wir bräuchten wieder einen, der mal durchgreift, solche Dinge höre ich erschreckend oft, wenn ich mit meiner Wagenkirche in der Fußgängerzone unterwegs bin. 

Mir scheint da in der letzten Zeit irgend etwas völlig aus den Fugen geraten zu sein. Zuerst wohl im Internet, aber inzwischen auch im Umgang der Menschen untereinander. Ein Beispiel? In Österreich ist ein Flüchtling, der sich auf einem Güterzug versteckt hatte, an einem Stromschlag gestorben. Und am Heiligen Abend sammelten sich die Kommentare auf der Website einer großen österreichischen Zeitung: „Endlich gute Nachrichten!“ „Hoffentlich ist an der Stromleitung kein Schaden aufgetreten.“ „Für was Strom nicht alles gut ist.“ „Tödlicher Stromschlag – könnte das die Lösung sein?“ Und eine Kommentatorin, die es wagte, das zu kritisieren, bekam zur Antwort: „Geh Kerzerl anzünden!“

Angst und Furcht sind eben kein guter Ratgeber. Meister Yoda drückt es in einem der Star Wars-Filme so aus:

Furcht ist der Pfad zur dunklen Seite. Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass, Hass führt zu unsäglichem Leid.

Wie recht er damit hat,  sehen wir leider bei solchen Kommentaren, bei den Morddrohungen gegen Politiker, bei den Anschlägen auf Flüchtlingsheime und und und. Furcht führt zu unsäglichem Leid.

Dabei haben wir doch gerade vor einer Woche eine ganz andere Botschaft gehört. Das genaue Gegenteil: „Fürchtet euch nicht!“ haben die Engel gerufen. „Fürchtet euch nicht, denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Also, ganz wörtlich: Der, der die Welt heil machen wird.

Vielleicht würde das schon ausreichen fürs neue Jahr: Sich nicht zu fürchten. Ja, natürlich gibt es immer mal wieder Situationen, in denen wir Angst haben. Aber die Angst darf uns nicht lähmen, nicht beherrschen, uns nicht zur „dunklen Seite“ ziehen, wie Meister Yoda es ausdrückt. 

Fehlt halt noch die Feuersäule bei Nacht und die Wolke am Tag. Da hatten es die Israeliten gut. Die wussten, wo‘s langgeht. Da gab es keine Zweifel über den Weg, jedenfalls nicht in der Anfangszeit. Ihnen war immer sichtbar: Gott ist uns hold. Und er weiß den Weg.

Aber – haben wir nicht schon lange eben ein solches Zeichen? Gerade haben wir es gefeiert. An Weihnachten. Dass unser allgegenwärtiges Zeichen von Gott in die Welt gekommen ist. Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids!“

In Jesus haben wir es doch. Das Zeichen von Gott. Den Wegweiser. Unser Zeichen, dass Gott uns hold ist. Jesus hat uns gezeigt, wie das geht: Menschlich leben. Wir wollen‘s nur nicht immer wahrhaben, weil das nämlich viel anstrengender und herausfordernder ist, als sich die gute alte Zeit zurückzuwünschen und auf irgendwelche Fremden einzudreschen.
Jesus hat uns nicht nur durch seine Worte gezeigt, wie wir leben können. Sondern auch damit, wie er selbst gelebt hat. Wie er sich anderen Menschen zugewendet hat, liebevoll, aber auch klar in seiner Botschaft. 

So leben wie Jesus? Jeden Menschen liebevoll ansehen, selbst den, der mich total ärgert? Die andere Wange hinhalten? Freiwillig und freimütig geben? Nicht auf meinem Recht bestehen? Alles das und noch viel mehr. 

Wir haben eine Feuersäule, die vor uns her geht. Das „Licht der Welt“ nennen wir sie manchmal gerne und denken dabei an heimelige Kerzen im weihnachtlichen oder osternächtlichen Dunkel. Aber diesem Licht nachzufolgen, ist nicht immer heimelig, ganz im Gegenteil. Es ist eine lebenslange Herausforderung, so wie es für Israel eine Herausforderung war, durch die Wüste zu wandern. Es bedeutet, für andere dazusein. Es bedeutet, für Recht und Gerechtigkeit einzustehen. Vor allem bedeutet es: Zu lieben. Mich selbst, meine Mitmenschen. Und Gott.

Das ist anstrengend, ehrlich. Aber wir haben dieses Versprechen: Wir sind nicht allein. Gott ist uns hold. Wir brauchen uns nicht zu fürchten. Wenn wir dieses neue Jahr, das vor uns liegt, ernsthaft so gestalten wollen, dann ist er dabei. Niemals wich die Wolkensäule von dem Volk – und niemals weicht Jesus von unserer Seite. Oder in seinen eigenen Worten: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Auch für uns gilt: Gottes Datumsstempel endet niemals. Nicht mal dann, wenn wir sterben.
Das ist es doch, was wir an Weihnachten gefeiert haben. Dass unser Licht, unser Leitstern in die Welt gekommen ist. Der Stern der Gotteshuld. 

Das wird uns nicht vor Zeiten und Wegen bewahren, die schwer und undurchschaubar sind, auch nicht im neuen Jahr. Jochen Klepper hat das in seinem wunderbaren Adventslied so ausgedrückt:

Noch manche Nacht wird fallen auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte kam euch die Rettung her.

Das ist Gottes Versprechen für uns. Für das neue Jahr, das vor uns liegt: Der Stern der Gotteshuld wandert mit uns. Gott ist uns hold. Er ist uns wohlgesonnen. Wir werden wohl auch im neuen Jahr manche dunkle Tage und Nächte erleben. Aber wir sind dabei nicht allein. Gottes Leuchten, sein Stern der Gotteshuld, das Licht der Welt: Es ist bei uns. Um uns. Jeden Tag. Sein Datumsstempel endet nie. Darum: Fürchtet euch nicht! 

Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.