Ansprache beim MehrWegGottesdienst am 4.12.2016: Beflügelt
„Am Sonntag muss ich in die Kirche. Bedauert mich mal.“ „Hoffentlich geh ich nicht in Flammen auf, wenn ich da reingehe.“ „Die haben nicht mal WLAN, damit ich mich ablenken kann.“
Solche Sprüche lese ich fast täglich, denn ich habe auf meinem Computer eine Anzeige, in der mir alle Twitter-Beiträge angezeigt werden, in denen das Wort Kirche vorkommt. Mit Ausnahme von denen, in denen zusätzlich das Wort „Ameisen“ steht. Man glaubt gar nicht, wie oft dieser Witz getwittert wird: „Warum gehen Ameisen nicht in die Kirche? Weil sie In-Sekten sind.“
Na ja, viele Menschen scheinen auch so was wie Ameisen zu sein. Freiwillig kriegt man die nicht da rein. Da muss schon was ganz Schlimmes passieren, Hochzeit der besten Freundin oder so, damit sie eine Kirche betreten. Oder die eigene Konfirmation. Schlechte Erfahrungen gemacht, langweilig das Ganze, hat nichts mit meinem Leben zu tun. Das höre und lese ich ständig.
Erhoffen Sie sich denn noch etwas von einem Besuch in der Kirche? Also, nicht nur hier im MehrWegGottesdienst. Vielleicht, wenn Sie auch mal in einen ganz normalen Sonntagsgottesdienst gehen. Oder jetzt an Weihnachten.
Erwarten Sie noch, dass sich da etwas verändert? In Ihrem Leben verändert?
Wie wäre das, wenn Sie das auf einmal packt, was Sie da hören. Wenn es auf einmal Ihr eigenes Leben verändert. Das wäre ja auch gefährlich, würde vieles in Frage stellen. Vielleicht sind langweilige Gottesdienste ja doch die besseren statt solchen, die uns packen, aufwühlen und vor allem: Beflügeln.
Dabei geht es doch nicht um ein bisschen „piep piep piep, Gott hat uns alle lieb“. Es geht hier vor Gott um alles. Es geht um mich. Um Sie. Um Gott. Es geht darum, wie wir vor Gott bestehen können mit unseren ganzen kleinen und kleinlichen Fehlern und Schwächen. Mit unseren Sorgen, unserer Trauer, unseren Ängsten, unserem Versagen.
Vielleicht sagen wir da als Pfarrer auch zu schnell: „Gott hat dich doch lieb, und heile heile Segen, alles ist wieder gut.“ Nein, nichts ist gut. Wenn ich jemanden verletzt habe, ist er weiter verletzt. Wenn jemand sterbenskrank ist, wird er nicht so einfach wieder gesund, auch wenn wir die Hoffnung nicht aufgeben dürfen. Und wenn ich eine Sache richtig verbockt habe, wird sie nicht wieder gut, nur weil ich in die Kirche gegangen bin und gehört habe: Gott hat dich lieb.
Jesus hat uns gezeigt: Gott ist da ganz anders. Jesus hat nicht einfach die Nägel am Kreuz rausgezogen, Pflaster drauf, heile heile Segen und gut ist. Er ist wirklich „hinabgestiegen in das Reich des Todes“, wie wir das im Glaubensbekenntnis oft so gedankenlos aufsagen. Er war tot. Richtig tot. Und seine Jünger verzweifelt. Richtig verzweifelt. Alles war zu Ende.
Und dann hat Gott gezeigt, dass er selbst aus dem Ende von allem noch etwas machen kann. Etwas Neues, vollkommen Unerwartetes. Neues Leben, wo keiner es noch erwartete. Neue Hoffnung, wo es überhaupt keine Hoffnung mehr geben konnte. Eine Bewegung von Menschen, die an diesen Jesus glauben, die sich in 2000 Jahren über die ganze Welt verbreitet hat.
Vielleicht sind unsere Gottesdienste, auch meine, ich nehme mich da gar nicht aus, deshalb manchmal so nichtssagend, weil wir uns da zu schnell rausziehen und alles mit Gottes Liebe zukleistern. Weil wir gar nicht mehr zulassen und wahr haben wollen, dass es auch einem Christenmenschen so richtig dreckig gehen kann. Weil wir Angst davor haben, Zweifel, Zorn auf Gott, unser eigenes Versagen, alles das zuzulassen.
Jesus war anders. Jesus hat geschrien: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Wer von uns würde das schon tun?
Aber dann, erst dann, wirkte Gott das Wunder. Durch die tiefsten Abgründe hindurch. Durch Todesangst und Tod hindurch.
„Die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“, so hat es der Prophet Jesaja geschrieben. Das erhoffen wir uns, wenn wir beten, wenn wir in die Kirche gehen, eigentlich doch jeden Tag, wenn wir aufstehen: Neue Kraft. Beflügelt sein. Fröhlich nach vorn blicken. Den ganzen alten Kram hinter uns lassen.
Und dann gibt es zwischendurch Zeiten, in denen sowieso alles bestens läuft. Was brauch ich Gott, wenn‘s mir super geht, wenn ich Erfolg habe und Spaß am Leben? Was will ich dann in einer Kirche, wo meistens so schwere Gedanken gewälzt werden wie jetzt gerade wieder? Das zieht mich doch dann nur runter.
Der Engel von unserem Plakat, der am Anfang schon zu uns gesprochen hat: Der verkörpert das für mich in ganz besonderer Weise, was unser menschliches Leben ausmacht. Ich weiß nicht genau, was sich der Mensch dabei gedacht hat, der diesen Engel modellierte. Vielleicht ist der Körper nur ein bisschen verrutscht, bevor die Masse ganz getrocknet war, und er oder sie dachte sich „ach egal, das lass ich jetzt so“. Vielleicht fährt der Engel auch Ski, könnte sein, sieht fast so aus. Das wäre dann der erfolgreiche Typ, dem gerade alles gelingt, der Spaß am Leben hat, den alles beflügelt, dem alles leicht von der Hand geht.
Ich denke mir immer: Dieser Engel ist gebeugt unter der Last der Sünden, Nöte und Ängste der ganzen Welt. Und doch trägt er Flügel. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes be-flügelt.
So, glaube ich, können wir auch sein: Beflügelt von Gott. Mit neuer Kraft ausgestattet. Auch, wenn uns so vieles in unserem Leben eben doch immer wieder runterzieht, runterziehen will. Immer in diesem Zwiespalt. Beflügelt und gekrümmt zugleich. Engel und Sünder in einem.
Aber noch ein zweites: Ein Engel, das ist ein Bote Gottes. Vielleicht beugt er sich auch herunter zu den Menschen, will helfen. Aufrichten. Stärken. Flügel weitergeben. Schützend die Flügel um einen Menschen legen, der den Schutz nötig hat. Und auch von seinem Erfolg, seiner Freude weitergeben.
Gott beflügelt Sie. Er macht Sie zu einem Engel. Zu seinem Boten. Sind Sie`s? Treten Sie ein für Liebe und Versöhnung? Treten Sie ein für den Schutz der Menschen, die Not leiden? Legen Sie tröstend einen Engelsflügel um den Bettler auf der Straße, um den Syrer, der alles zurücklassen musste, um den Kollegen, der von allen gemobbt wird? Sitzen Sie am Bett des Sterbenskranken und berühren ihn zart und liebevoll mit Ihrem Flügel? Und singen Sie, trotz allen Leids auf dieser Welt, laut und kräftig mit, wenn alle Engel Gott loben? Strahlen Sie die Freude und Hoffnung dessen aus, der von Gott beflügelt ist?
Engel sein. Beflügelt. Fröhlich. Sanft, liebevoll, menschenfreundlich.
Engel sein. Von Gottes Kraft beseelt.
Gott beflügelt Sie. Dann mal los. Machen Sie was draus.
Amen.