Predigt: Segenskämpfer

Predigt am Sonntag Quasimodogeniti, 16.4.2023, in der Arche Dittelbrunn

23 In derselben Nacht stand Jakob auf.
Er weckte seine beiden Frauen, die beiden Mägde
und seine elf Söhne.
Denn er wollte den Jabbok
an einer flachen Stelle überqueren.

24 Zuerst ließ er die Frauen und Kinder
den Fluss überqueren.
Dann brachte er sein Hab und Gut hinüber.

25 Er selbst blieb allein zurück.
Plötzlich war da jemand,
der bis zum Morgengrauen mit ihm kämpfte.

26 Aber er sah, dass er Jakob nicht besiegen konnte.
Da packte er Jakob am Hüftgelenk,
sodass es beim Ringen ausgerenkt wurde.

27 Dabei sagte er: »Lass mich los!
Denn der Tag bricht an.«
Jakob entgegnete:
»Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.«

28 Der andere fragte Jakob: »Wie heißt du?«
Er antwortete: »Jakob.«

29 Da sagte der andere:
»Von nun an sollst du nicht mehr Jakob heißen,
sondern Israel, ›Gotteskämpfer‹.
Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft
und bist Sieger geblieben.«

30 Jakob bat: »Sag mir doch deinen Namen!«
Er erwiderte: »Wozu fragst du noch nach meinem Namen?«
Und er segnete ihn dort.

31 Jakob nannte den Ort Penuel,
das heißt: Angesicht Gottes.
Denn er sagte:
»Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen
und bin am Leben geblieben.«

32 Als Jakob Penuel verließ, ging gerade die Sonne auf.
Er hinkte wegen seiner verrenkten Hüfte.

Basisbibel, Gen 23, 23-32

Jakob.

Ein gemachter Mann.

Reich geworden im Ausland.

20 Jahre für den Schwiegervater Laban geschuftet.

Zwei Ehefrauen, Lea und Rahel.

Kinder. Schafherden. Ziegen. Kamele. Kühe. Alles, was man sich nur erträumen konnte damals – er hatte es im Überfluss.

Und doch – an Schlaf war nicht zu denken, jetzt, da er nach Hause zurückkehrte.

Zwanzig Jahre hatte er nichts gehört von seinem Bruder Esau.

Zwanzig Jahre Schuldgefühle.

 

Das übliche, überall die gleiche traurige Geschichte: Streit unter den Geschwistern. Oder unter alten Freunden. Manchmal wegen einer Nichtigkeit, einer Linsensuppe, manchmal wegen ernsten Themen, oft wegen Geld. In letzter Zeit auch wegen Corona. Oder Politik, gerade heute wieder, am ersten Tag ohne Atomstrom. Es eskaliert. Und dann, irgendwann: Funkstille. Für Jahrzehnte. Oder für immer. Doch das Verlustgefühl – es bleibt. Es nagt. Es zehrt dich auf.


Ja, er war Schuld daran. Er, Jakob.

Das Erstgeburtsrecht hatte er ihm abgenommen, damals, für einen Teller Linsensuppe, was für ein Hohn.

Und den Erstgeburtssegen hatte er sich von seinem blinden Vater erschlichen.

Esau, der hatte in die Röhre geschaut, damals.

Jakob war geflohen.

List und Betrug, ja, das waren Jakobs Begleiter im Leben gewesen. Immer wieder.

Manchmal war auch er selber der Betrogene, etwa damals, als er sieben Jahre für Rahel gedient hatte und dann Lea zur Frau bekam. Nochmal sieben Jahre musste er dienen für Rahel.

List. Betrug. Der eigene Vorteil. Neid. Gier. Alles das kannte er, Jakob. Alles das hatte er eingesetzt und selbst erduldet – für ein bisschen Segen. Für ein bisschen Nähe Gottes. Für das Gefühl: Du bist angenommen. Du bist nicht allein. Gott ist dir nahe. So sehr sehnte er sich danach. So sehr zweifelte er daran, immer noch, trotz allen Reichtums, allen Erfolgs. Das war alles nichts.

Denn da war dieser Bruch in seinem Leben.

Der Bruch mit seinem Bruder.

Mit Esau.

Wie könnte er ihm je wieder unter die Augen treten?

Und jetzt kamen Jakobs Späher und berichteten: Esau kommt dir entgegen mit 400 Mann! Eine richtige Armee!

Nein, an Schlaf war nicht zu denken.

Heute war die Nacht.

Die Nacht vor dieser schicksalhaften Begegnung.

Die Nacht, bevor er den Bruch kitten – oder vielleicht sterben würde.

Riesige Herden hatte er vorausgeschickt zu Esau, als Geschenk, um ihn zu besänftigen. Doch würde es reichen?

Allein blieb Jakob zurück am Ufer des Flusses.

Einsam.

Allein mit seinen Gedanken.

Seiner Angst.

Den Schatten seiner Vergangenheit.

So ein reicher, erfolgreicher Mann – und doch, zerfressen von Angst. Von Schuld. Von Zweifeln.

Die ganze Nacht hindurch kämpfte er.

Kämpfte um sein Leben.

Um seinen Platz in der Welt.

Um seinen Platz in Gottes Welt.

War es Gott? War es ein Dämon? Ein Engel? Ein Schatten? Ein böser Traum?

Oder kämpfte er nur gegen sich selbst?

Gegen die eigenen Ängste.

Die eigene Unsicherheit.

Die Schuldgefühle, die Depressionen, die Zukunftsangst, die Einsamkeit, das Gefühl zu versagen, die Traurigkeit, die Überforderung, die Burn-out-Gefühle, die Selbstzweifel, die Ängste vor Ablehnung, Misserfolg und Verlust, die Unzufriedenheit, die Sinnlosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, den Tod.


Was ist mit Ihnen?

Was sucht Sie heim, in Ihren dunkelsten Nächten, in den Momenten der Verzweiflung?

Was lässt Sie wach liegen, schlaflos, voller Sorgen?

Mit welchen Schatten kämpfen Sie?

Was lässt Sie zweifeln und Ihre Hoffnung schwinden?

Was ist Ihre Nacht, Ihr Dämon, Ihr Schatten, Ihr böser Traum?


Wir erfahren es nicht, gegen wen oder was Jakob kämpfte.

Ahnen nur, dass es Gott selbst gewesen sein könnte.

Nur eines wissen wir von Jakob:

Es war ein langer, langer, schwerer, dunkler Kampf.

Einer, der Jakob für immer veränderte.

Ein Kampf, der ihm alles abverlangte, ihn in die tiefsten Tiefen der Nacht zog, ihn verletzte.

Hinkend kam er letzten Endes heraus aus dem Kampf.

Gezeichnet für immer.

Mit einem neuen Namen: Israel. Der mit Gott kämpfte.

Niemals wieder in der biblischen Geschichte würde ein Mensch Gott von Angesicht zu Angesicht sehen.

Nur er: Jakob. Israel.

Und, wieder einmal: Gesegnet.

Wieder einmal hatte sich Jakob den Segen erkämpft, erstritten.

Wieder einmal, wie so oft in seinem Leben, ging es nicht nur um List und Betrug und Kampf, sondern eben auch darum:

Gesegnet zu sein. Wie damals vom Vater Isaak.

 

Was steht bei Ihnen am Ende einer dunklen, schlaflosen Nacht?

Am Ende eines dunklen, sorgenvollen Jahres.

Am Ende einer Beziehung.

Am Ende eines Lebensabschnitts.

»Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.«, sagt Jakob. Was für eine Frechheit!

Und doch: Manche Menschen erfahren das. Gerade in der dunkelsten Nacht: Dass sie gesegnet sind, aber verändert. Dass Gott ihnen nahe ist, gerade im Dunkel und in der Angst. Manchmal dauert es Jahre, Jahrzehnte, das im Rückblick zu erkennen.

In der dunkelsten Osternacht, der Nacht des Todes, vor einer Woche, brannte auf einmal das Licht der Osterkerze und der Ruf erscholl: „Er ist wahrhaftig auferstanden!“ Segen. Hoffnung. Mitten im Leid. Mitten im Tod. Mitten in der Verwzeiflung. Erstritten von Gott selbst im Kampf gegen den Tod. Und er, Jesus, er war verändert, gezeichnet an den Händen und den Füßen. Aber er lebte. Und gab uns Hoffnung, bis heute.


Jakob jedenfalls: Er gibt nicht auf. Er erstreitet sich den Segen. Vorher lässt er nicht los.

Die Sonne geht auf.

Jakob, Israel, hinkt.

Jakob. Ein neu gemachter Mann.

Mutig, aber demütig geht er seinem Bruder Esau entgegen. Und der? Nimmt ihn freudig in den Arm. Der Streit ist Geschichte. Ein neues, anderes Leben beginnt. Ein Leben voller Segen.