Urlaubspredigt: Vergnügt, erlöst, befreit
Predigt am 21.8.2022 in der Doopsgezinde Gemeente Ouddorp, Niederlande
Text: Lk 19, 1-10 (BasisBibel)
1 Jesus kam nach Jericho und ging durch die Stadt.
2 Dort lebte ein Mann, der Zachäus hieß. Er war der oberste Zolleinnehmer und sehr reich.
3 Er wollte unbedingt sehen, wer dieser Jesus war. Aber er konnte es nicht, denn er war klein, und die Volksmenge versperrte ihm die Sicht.
4 Deshalb lief er voraus und kletterte auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Jesus sehen zu können –denn dort musste er vorbeikommen.
5 Als Jesus an die Stelle kam, blickte er hoch und sagte zu ihm: »Zachäus, steig schnell herab. Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.«
6 Sofort stieg Zachäus vom Baum herab. Voller Freude nahm er Jesus bei sich auf.
7 Als die Leute das sahen, ärgerten sie sich und sagten zueinander: »Bei einem Sünder ist er eingekehrt!«
8 Aber Zachäus stand auf und sagte zum Herrn: »Herr, die Hälfte von meinem Besitz werde ich den Armen geben. Und wem ich zu viel abgenommen habe, dem werde ich es vierfach zurückzahlen.«
9 Da sagte Jesus zu ihm: »Heute bist du gerettet worden – zusammen mit allen, die in deinem Haus leben. Denn auch du bist ein Nachkomme Abrahams!
10 Der Menschensohn ist gekommen, um die Verlorenen zu suchen und zu retten.«
„Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?“
Mit dieser Frage beginnt die Neurowissenschaftlerin Maren Urner ihr Buch „Raus aus der ewigen Dauerkrise“. Ich bin noch nicht ganz fertig mit Lesen, aber es passt einfach so vieles von dem, was sie schreibt, zu unserem heutigen Thema, dass ich es nicht ignorieren konnte. Maren Urner ist erklärte Atheistin, aber die Fragen, die sie stellt, beschäftigen uns auch im Glauben.
Unter anderem eben diese: Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Maren Urner sagt: Die meisten von uns wissen gar nicht wirklich, was gut für sie ist. Und noch schlimmer: Wir wissen nicht mal, dass wir es nicht wissen. Wir jagen dem Glück nach, ohne jemals überhaupt darüber nachzudenken, was Glück eigentlich ist.
Wäre ein Lottogewinn das Glück schlechthin? Wenigstens ein kleiner, also nicht gerade 10 Euro, aber vielleicht zehntausend? In den USA hat neulich jemand eine Milliarde gewonnen. Ob er damit glücklich wird? So viele Geschichten gibt es von Lottogewinner*innen, die mit ihrem neuen Leben gar nicht klar kamen. „Nur ein kleines bisschen mehr Geld haben, dann geht es mir besser“: Das denken seltsamerweise nahezu alle Menschen auf der Welt. Sogar die allerreichsten meinen, sie bräuchten nur ein bisschen mehr, dann ginge es ihnen endlich gut. Klar, bis zu einem gewissen Betrag ist es wirklich so: Die Sorgen werden weniger, wenn wir zumindest genügend haben, um halbwegs über die Runden zu kommen. Und viel zu viele leben unterhalb dieser Grenze. Aber alles darüber? Häufe ich dann nicht einfach Besitz an, der meine Aufmerksamkeit fordert?
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Auch Zachäus meinte, das Leben verstanden zu haben. Auch für ihn ging es um Geld. Um Wohlstand, um immer mehr. Wenn er dafür mit den bei allen anderen verhassten Römern zusammenarbeiten musste: Kein Problem. Aber – so stelle ich mir das vor: Richtig glücklich war er damit nicht. Im Grund wusste er schon, dass er ein völlig anderes Leben führen wollte. Nur – wie würde das werden? Würde er nicht immer der Außenseiter bleiben? Wie würde ein Leben mit weniger Besitz aussehen? Könnte er das verkraften? Angst vor Veränderung: Das ist ein schlechter Ratgeber, meint auch Maren Urner, aber ich möchte jetzt nicht ihr ganzes Buch hier zusammenfassen. Aber es passt einfach so gut, was sie schreibt. Dabei hatte ich den Zachäus-Text für heute aus einem ganz anderen Grund ausgewählt, der dann aber doch wieder mit der Frage zusammenhängt: Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Für mich ging es, als ich den Text auswählte, um diesen einen Satz aus dem Evangelium, ungefähr in der Mitte:
Sofort stieg Zachäus vom Baum herab. Voller Freude nahm er Jesus bei sich auf.
Voller Freude!
Im Lukasevangelium ist das ein ganz wichtiges Wort, die Freude. Die Freude ist der Rahmen um alles. Sie steht schon ganz am Anfang im ersten Kapitel, als der Engel dem Zachäus die Geburt von Johannes dem Täufer ankündigt. Und sie steht ganz am Ende, als die Jünger nach Jesu Himmelfahrt „mit großer Freude“ zurück nach Jerusalem gehen und Gott loben.
Ich habe kurz überlegt, heute die bekannteste Geschichte über die Freude bei Lukas zu nehmen – die Weihnachtserzählung. Aber das wäre vielleicht doch ein bisschen zu schräg gewesen im Sommerurlaub.
Dann halt die von Zachäus, bei der die Freude so ganz unvermittelt und unerwartet aufblitzt:
Sofort stieg Zachäus vom Baum herab. Voller Freude nahm er Jesus bei sich auf.
Freut euch! Sagt der Evangelist Lukas mit seinem ganzen Evangelium, seiner frohen Botschaft.
Freut euch! Jesus kommt zu euch. Ist halt nicht immer so einfach und auf Kommando schon mal gar nicht. „Bitte freuen Sie sich jetzt!“ - nee, das geht nicht. Oder doch? Wir können’s ja mal ausprobieren. Also bitte: Freuen Sie sich jetzt! ... na ja. Ausbaufähig.
Maren Urner schreibt: Wir können unser Gehirn tatsächlich bis zu einem gewissen Grad trainieren. Weg von dem ängstlichen Bewahren von Althergekommenem, das eigentlich schädlich für uns ist. Hin zur Neugier auf neue Lösungen, neue Wege. Freut euch! Ja, auch das können wir üben.
Und was machen wir Christinnen und Christen? Kann man uns daran erkennen, wie fröhlich und erlöst wir durchs Leben gehen? Oft habe ich eher den gegenteiligen Eindruck. So wie die Leute, die sich über Jesus und Zachäus aufregten „Bei einem Sünder ist er eingekehrt!“ Kann man uns daran erkennen, dass wir fröhlich und erlöst durchs Leben gehen? Nehmen wir unseren Glauben ernst genug, wenn man uns nicht daran erkennt, dass wir vergnügt sind, erlöst und befreit?
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben? Ja, sagt Lukas mit seinem ganzen Evangelium. Er hat’s verstanden Für ihn geht es um die Freude! Darum, dass Gott uns befreit von der Angst. Darum, dass wir fröhlich und erlöst und mutig nach vorne blicken können.
Viel Freude erleben wir hier, im Urlaub. Schöne Tage. Gute Begegnungen. Einfach mal raus aus dem alltäglichen Trott, Neues sehen oder Altbekanntes wiedertreffen, wenn Sie wie wir schon seit vielen Jahren hierher nach Ouddorp kommen.
Viel Freude erleben wir auch hier, in dieser Gemeinde, mit freundlichen Menschen, die uns begrüßen, für uns da sind, damit wir hier einen deutschsprachigen Gottesdienst feiern können und nachher noch einen Kaffee trinken und ein bisschen zusammenbleiben. Danke dafür!
Voller Freude steigen wir herunter von dem Baum des Alltagslebens. Sind vielleicht bereiter als sonst für Neues, für Unbekanntes. Und dann ist es doch nicht so einfach, das alles. Gerade im Urlaub gibt es doch oft Streit und Konflikte. Kaum Platz, um sich mal aus dem Weg zu gehen. Unterschiedliche Ideen, wo’s heute hingehen soll. Oder schon die Frage, was es zu Essen geben soll. Schon ist die „Krise“ da und der ganze Urlaub scheint vermasselt zu sein. Wo Menschen zusammenkommen, gibt es nun mal Reibereien, Enttäuschungen, Streit. Das gehört auch dazu. Und manchmal setzen wir uns auch selber unter Druck, der Urlaub muss ja perfekt sein, an jedem einzelnen Tag.
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Ist es wirklich wichtig, dass immer alles perfekt ist? Oder machen nicht vielleicht gerade die kleinen „Unebenheiten“ es erst richtig interessant? Selbst ein Zahnarztbesuch im Urlaub kann eine neue Erfahrung sein. Ist übrigens gleich nebenan und die Leute sind wirklich nett.
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben? Lukas hat mit seinem „Freut euch!“, glaube ich, eine Menge verstanden.
Aber dann schau ich doch auch im Urlaub mal in die Tagesschau-App oder auf Twitter. Der Krieg in der Ukraine, die vielen anderen Konflikte. Die große Trockenheit. Der Klimawandel, der nun überall spürbar ist und mich daran verzweifeln lässt, was für eine Welt wir unseren Kindern und Enkeln hinterlassen. Was wird aus diesem schönen Ouddorp, wenn der Meeresspiegel steigt? Wie werden wir uns in Hitze und Trockenheit ernähren können? Wie viele Menschen werden in der Hitze umkommen oder in den immer häufigeren schweren Unwettern? Viele Fragen, viele Sorgen.
Sofort stieg Zachäus vom Baum herab. Voller Freude nahm er Jesus bei sich auf.
Wie ist es Zachäus wohl später ergangen? Schon als Kind habe ich mich gefragt, ob er sich mit seinem Versprechen nicht übernommen hat, alles vierfach zurückzugeben. So viel Geld konnte er doch gar nicht haben. Wenn er das wirklich umgesetzt hat, müsste er – jedenfalls in meiner Vorstellung – hinterher ein ziemlich armer Schlucker gewesen sein. Ja, da sind sie, die „aber“-Momente. Was alles schiefgehen könnte, was alles sein könnte, dann probieren wir es aus lauter Angst davor lieber gar nicht. So funktionieren wir, und das hält uns davon ab, mutig das anzupacken, was nötig wäre, für unser eigenes Leben, aber auch, um das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten zu sichern.
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben? Ich glaube, Zachäus hatte in diesem Moment, als Jesus ihn anblickte, ein ganz tiefes Verständnis davon, worum es im Leben geht. Maren Urner nennt das „Plopp-Momente“, in denen uns plötzlich etwas klar wird, was wir vielleicht sogar schon lange ahnten. Für Zachäus war es: Es geht nicht um immer mehr Geld. Es geht um Gemeinschaft mit anderen. Darum, Menschen zu helfen. Darum, mit anderen zusammen zu sein. Darum, für möglichst viele die Welt besser zu machen – nicht nur für mich allein. Darum, neugierig zu sein sich zu freuen am Leben. Freut euch! Sagt Lukas. Ihr habt Grund dazu, denn ihr seid erlöst.
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Auch im Leben des Zachäus wird es später Tiefpunkte gegeben haben. Streit. Trauer. Verluste. Was ist dann mit der großen Freude? Wo ist sie hin?
Ja, es gehört halt leider beides dazu im Leben. Die Freude – und das Leid. „In dir ist Freude in allem Leide“ haben wir vorhin gesungen. Von den immer mies gelaunten Christ*innen habe ich vorhin schon kurz gesprochen. Andere dagegen sind der Meinung, man dürfe gar nicht traurig sein, weil wir ja erlöst sind. Wir sollen Gott loben, ganz egal, wie es uns geht, auch in tiefster Trauer und Angst. Das wäre mir, ehrlich gesagt, zu eindimensional. Wenn ich in die Psalmen sehe – wie oft klagen die Betenden dort Gott ihr Leid! Wenn ich auf Jesus sehe: Selbst er hat gerufen „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Lukas zeigt uns mit seinem ganzen Evangelium: Wir dürfen und müssen auch die traurigen Seiten zulassen. Krisen – im ursprünglichen Wortsinn als Momente der Entscheidung – sind wichtige Wegmarken. Momente, in denen wir uns in die eine oder die andere Richtung weiterentwickeln. Aber wir können sie durchstehen. In der Gewissheit: Jesus kommt. Er ist da. Er trägt uns. Alles das, was uns bedrückt: Es ist nicht das, was unser Leben als letztes bestimmen soll. Die Engel verkünden uns eine frohe Botschaft, die sogar den Tod überwindet! Daran, glaube ich, sollte man uns erkennen. Dass wir erlöst sind. Vergnügt, erlöst, befreit.
Glaubst du, das Leben verstanden zu haben?
Hanns-Dieter Hüsch ist für mich ein Mensch, der ganz viel vom Leben verstanden hat. Er hat das einmal in einem ganz wundervollen Gedicht ausgedrückt, das er „Psalm“ nannte. Es begleitet mich schon lange, denn es beinhaltet beides: Das Elend und die Zärtlichkeit. Die Freude und das Leid. Und ein ganz tiefes Vertrauen, dass es am Ende gut wird. Diesen Psalm möchte ich für heute an den Schluss stellen.
Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.Was macht, dass ich so fröhlich bin
in meinem kleinen Reich.
Ich sing und tanze her und hin
vom Kindbett bis zur Leich.Was macht, dass ich so furchtlos bin
an vielen dunklen Tagen.
Es kommt ein Geist in meinen Sinn,
will mich durchs Leben tragen.Was macht, dass ich so unbeschwert
und mich kein Trübsal hält?
Weil mich mein Gott das Lachen lehrt
wohl über alle Welt.Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.
Gott nahm in seine Hände meine Zeit,
mein Fühlen, Denken, Hören, Sagen,
mein Triumphieren und Verzagen,
das Elend und die Zärtlichkeit.