Erwählt auf Hoffnung
Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis 2006/2011
Gochsheim, 20.8.2006; Schonungen, 28.8.2011
Text: Jes 62, 6-12: O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen «Heiliges Volk», «Erlöste des HERRN», und dich wird man nennen «Gesuchte» und «Nicht mehr verlassene Stadt».
Liebe Gemeinde!
Ein schwieriges Thema haben wir am heutigen Sonntag. Früher, da war alles viel klarer und eindeutiger. Da gab es auch den Israel-Sonntag am 10. Sonntag nach Trinitatis. Aber die Texte, die an diesem Sonntag gelesen wurden, die waren noch andere. Da ging es eher um das Gericht über Israel. Darum, dass die Juden ihr Heil verwirkt haben, dass Gott sie straft. Der alte Predigttext für heute – vor 12 Jahren wurde vermutlich hier in dieser Kirche noch über ihn gepredigt – es war eine Stelle aus dem Römerbrief, wo Paulus davon redet, dass er lieber selbst an Stelle seiner früheren Glaubensbrüder und -schwestern verflucht sein möchte. Da konnte man sich gut darüber auslassen, wie die Juden ihre Erwählung verspielt haben, als sie Jesus, den Messias, den Gott ihnen geschickt hatte, ans Kreuz haben schlagen lassen. Dass sie vor Pilatus geschrieen haben: „Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!“ Dass ihre Geschichte der letzten 2000 Jahre die gerechte Strafe Gottes sei.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Israel ist nicht das von Gott völlig verstoßene Volk. Nein, es ist und bleibt Gottes erwähltes Volk. Gott hat einen Bund mit Abraham geschlossen, und dieser Bund ist unwiderruflich. Auch Paulus schreibt davon im Römerbrief: „Gott hat verfügt, dass ein Großteil des jüdischen Volkes sich gegen die Einladung zum Glauben* verhärtet. Aber das gilt nur so lange, bis alle, die er aus den anderen VölkernB erwählt hat, den Weg zum Heil gefunden haben.
26 Wenn das geschehen ist, dann wird das ganze Volk Israel gerettet werden, wie es in den Heiligen Schriften* vorhergesagt ist: »Vom Zionsberg* wird der Retter kommen und alle Auflehnung gegen Gott von den Nachkommen Jakobs nehmen.
27 Dann werde ich ihnen ihre Verfehlungen vergeben, sagt Gott; und so erfüllt sich der Bund*, den ich mit ihnen geschlossen habe.« (Röm 2)
Deshalb hat die Kommission, die die Lese- und Predigttexte für jeden Sonntag im Kirchenjahr zusammenstellt, vor einigen Jahren beschlossen: Die alten Texte, in denen von der Strafe Israels die Rede ist, werden durch andere ersetzt. Texte, die davon reden, dass auch Israel erwählt ist, wenn auch auf eine andere Weise als wir. Wie könnte es auch anders sein – wie könnte Gott seine Erwählung jemals zurücknehmen!
Nur – diese Erwählung, sie bedeutet offenbar nicht, dass es einem besonders gut geht. Wenn wir die Geschichte dieses erwählten Volkes ansehen, dann ist das eine Geschichte voller Leid, voller Unterdrückung, voller Tod und Verfolgung.
Das war schon zu Zeiten des Jesaja so. Damals, vor etwa 2500 Jahren, hatte es schon einmal so ausgesehen, als wäre Gottes Verheißung nichts wert. Als wäre alles am Ende. Gottes Bund, Gottes Verheißung: Er hatte sie dem Abraham gegeben. Deine Nachkommen sollen so zahlreich sein wie die Sterne am Himmel. Und nun? Das einst so stolze Reich der Könige Saul, David und Salomo – es war zerfallen. Nach Salomo geteilt in ein Nord- und ein Südreich. Das Nordreich war schon lange untergegangen, doch das Südreich Juda mit der Hauptstadt Jerusalem und vor allem mit Salomos Tempel: Es bestand weiterhin. Bis die Babylonier kamen. Die Israeliten hatten sich geweigert, ihnen Tribut zu zahlen. Lange belagerten sie die Stadt Jerusalem. Am 29. Juli 587 v. Chr. kapitulierte König Zedekia. Die Babylonier zerstörten die Stadt und vor allem den Tempel. Die Söhne des Königs wurden vor seinen Augen hingerichtet und er selbst anschließend geblendet und in Ketten nach Babylon geführt. Nicht nur er – ein großer Teil der Oberschicht kam nach Babylon.
Und die, die noch übrig waren in Israel, die flüchteten zum großen Teil nach Ägypten. Das Land war leer, der Staat Israel am Ende.
So sah es aus vor 2500 Jahren. Schon damals hätte man meinen müssen: Gottes Bund, er ist nicht viel wert. Aber ganz im Gegenteil: Es wurde eine fruchtbare Zeit für die jüdische Theologie. Die Theologen mussten erklären, wie Gott diese Katastrophe zulassen konnte. Die ersten Synagogen entstanden, da der Tempel nicht mehr existierte. Das Fragen nach Gott und seiner Macht nahm zu statt ab. In der Fremde, bedroht durch einen fremden Glauben und eine fremde Kultur, fanden die Juden zu einer neuen Einheit.
50 Jahre später war das Exil zu Ende. Viele Juden kehrten heim, bauten den Tempel wieder auf, begannen ein neues Leben – bis sich die Geschichte wiederholte: Im Jahr 70 n. Chr. zerstörten die Römer den zweiten Tempel. Ein heidnischer Tempel wurde dort errichtet. Nach einem weiteren Aufstand der Juden verboten sie allen Juden unter Androhung der Todesstrafe, ihrer heiligen Stadt Jerusalem, die jetzt offiziell Aelia Capitolina hieß, auch nur nahe zu kommen – das fast zweitausendjährige Exil der Juden begann. Verstreut in alle Welt, nirgends zu Hause, immer wieder verfolgt und angefeindet: Wie kann das das erwählte Volk Gottes sein?
Von Gott erwählt zu sein – das bedeutet offensichtlich nicht, in Reichtum und Wohlstand zu schwelgen. Es bedeutet noch nicht einmal, glücklich zu sein auf dieser Welt. Aber es bedeutet wohl etwas anderes: Eine Hoffnung zu haben. Die Hoffnung, dass Gott eines Tages, ob er nun fern ist oder nah, alles gut machen wird. Dass er die Verletzungen heilen wird. Dass er die zerstörten Mauern wieder aufrichten, das Ausgerissene wieder einpflanzen, das Verwundete verbinden wird. Dass es keine Tränen und keinen Kummer mehr geben wird.
Erwählt auf Hoffnung – ein Volk, das sich diese Hoffnung über Jahrtausende hinweg bewahrt hat, das ist wahrhaftig ein erwähltes Volk. Ja, das können auch wir Christen sagen: Gott hält seine Hand über Israel. Er schützt es nicht vor Gefahren, nicht vor Verfolgung und nicht vor unsäglichem Leid. Aber er schützt es davor, einfach unterzugehen, aus der Weltgeschichte zu verschwinden. Er schützt es davor, die Hoffnung zu verlieren.
Wäre es nicht wunderbar, zu diesem Volk dazu zu gehören? Auch uns hat Gott einen Weg gezeigt. Unser Weg: Er führt durch Jesus Christus. Jesus, der Jude war. Der seinen jüdischen Glauben gelebt hat. Der ebenfalls unsägliches Leid erlebt hat, genau wie sein Volk. Und der genau wie sein Volk so offensichtlich gescheitert war. Und dennoch, so wie das jüdische Volk immer wieder aus der tiefsten Krise heraus wieder erstanden ist – so ist auch Jesus selbst aus dem Tod wieder auferstanden. Deshalb können auch wir Hoffnung haben. Hoffnung, ganz egal, wie unser Leben aussieht. Ganz egal, ob wir Angst haben vor dem, was auf uns zukommt, oder ob wir zuversichtlich in die Zukunft blicken. Gott wird uns nicht verlassen. Es mag sein, dass wir durch tiefe Täler müssen. Es mag sein, dass wir schwere Leiden erdulden müssen. Aber Gottes Nähe, die bleibt. Denn Gott hält seinen Bund, den er mit uns geschlossen hat, den er besiegelt hat durch seinen eigenen Sohn.
Amen.
Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.