Wo war Gott in Haiti?

Das Erdbeben in Haiti lässt wohl kaum jemanden kalt zur Zeit. Die Bilder und Nachrichten erschüttern uns. Wir werden von Spendenaufrufen überhäuft, und sicher haben auch viele schon für die Hilfe in Haiti gespendet.

Natürlich kommt angesichts dieses großen Leids in Haiti wieder einmal die Frage auf, die sich Menschen seit Jahrtausenden stellen: Wie kann ein Gott, von dem wir doch meinen, er sei allwissend, allmächtig und gütig, wie kann so ein Gott Leid überhaupt zulassen? Müsste er das nicht verhindern? Oder mit Worten, die lange dem griechischen Philosophen Epikur zugeschrieben wurden:

Entweder will Gott die Übel beseitigen und kann es nicht:
Dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft,
Oder er kann es und will es nicht:
Dann ist Gott missgünstig, was ihm fremd ist,
Oder er will es nicht und kann es nicht:
Dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott,
Oder er will es und kann es, was allein für Gott ziemt:
Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?

Ja also, wie ist das nun mit Gott? Gibt es ihn vielleicht gar nicht? Oder trifft eines der genannten Attribute „allmächtig, allwissend, gütig“ nicht auf ihn zu? Damit wäre die Frage ja schließlich geklärt, aber was wollen wir dann noch mit so einem Gott anfangen? Das ist doch dann kein Gott, zu dem wir aufschauen könnten.

Noch eine Möglichkeit ist natürlich, das Leid zu relativieren. Das fängt an bei „wir leben in der besten aller möglichen Welten, andere wären noch schlimmer“ (Leibniz), geht über „das Böse ist nur ein Mangel an Gutem“ (Augustinus u. a.) und hört auf bei „das Leid hat letztlich einen guten Zweck“. Aber was schreibe ich da, das alles kann man viel besser im Wikipedia-Artikel über die Theodizee nachlesen. Das ist gewissermaßen der Fachbegriff für diese Frage.
Eines klärt dieser Artikel nicht: Wie kann man trotz dieser offensichtlichen Widersprüche im Gottesbild überhaupt noch glauben, dass Gott existiert? Ich gebe zu, das ist nicht ganz so einfach.

Theodizee heißt wörtlich übersetzt: Rechtfertigung Gottes. Also Gott muss sich für sein Handeln vor den Menschen verantworten. Gott, warum hast du nicht eingegriffen, als Millionen Juden ermordet wurden? Warum hast du die Tsunami-Welle nicht zurückgehalten? Warum hast du dieses schwere Erdbeben in Haiti nicht verhindert oder zumindest die Folgen gelindert?

Ein kleiner Einwurf am Rande: Wir wissen nicht, ob Gott nicht vielleicht doch eingegriffen hat. Ein Bericht besagte, Haiti habe nochmal Glück gehabt, das Beben hätte eigentlich noch viel schlimmer ausfallen können. Und die Verfolgung der Juden im Dritten Reich und übrigens auch schon in den Jahrhunderten davor? Ich möchte sie auf keinen Fall klein reden; was damals geschehen ist, ist grauenhaft und mit nichts auf der Welt zu rechtfertigen. Aber es hat die Gründung des Staates Israel sicher deutlich vorangetrieben. Eine Heimat für die Juden, seit zwei Jahrtausenden vertrieben in alle Welt. Ein Haus gegen den Tod, wie es die ersten Siedler oft nannten.

Hilft uns das weiter? Mir nur wenig. Manchmal denke ich darüber nach, wie das wohl wäre, wenn wir gar nicht Gut und Böse auseinanderhalten könnten. Können es Tiere? Elefanten und Delfine vielleicht, aber Eidechsen und Ameisen wohl eher nicht. Eine uralte Geschichte der Bibel fällt mir dazu ein. Eine, die niemals historischer Bericht sein wollte, sondern „Ur-Geschichte“ in dem Sinn, dass sie die tiefsten Fragen des menschlichen Seins beleuchtet. Es ist die Geschichte von Adam und Eva und dem Apfel am Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Welch ein Gedanke: Die Menschen leben im Paradies. Alles ist gut. Gott lässt ihnen jede Freiheit. Auch um besagten Baum hat er keinen Zaun gezogen, ihnen aber gesagt, sie sollen nicht davon essen. Doch dann kommt der erste Zweifel auf an Gott. Der Gedanke: Wir könnten so sein wie er. Die Versuchung: Probiert es doch einfach aus! Und so essen Adam und Eva – und vertreiben sich damit selbst aus dem Paradies.  Denn wer erkennen kann, was gut und was böse ist – der lebt nicht mehr im Paradies. Der lebt in unserer Wirklichkeit, so wie sie eben ist. Mit Streit, Krieg, mit Hunger und Hass. Mit Erdbeben, Tsunamis und Amokläufern.

Wir sehnen uns zurück in das Paradies und können doch hinter diese Erkenntnis des Guten und Bösen nicht mehr zurück. Wir sehnen uns zurück und arbeiten daran, diese Welt dem Paradies der Urgeschichte ähnlicher zu machen. Nur, wer das Böse erkennen kann, kann auch dagegen arbeiten. Kann sich einsetzen für die Leidenden. Gegen Hunger. Gegen Ausbeutung und Sklaverei. Nur, wer das Leid erkennen kann, wird etwas tun. Spenden, so wie gestern bei der ZDF-Spendengala, bei der fast 20 Millionen Euro zusammenkamen. Hilfsorganisationen, Menschen, die sich Urlaub nehmen, um in Haiti helfen zu können. Oder in den vielen anderen Krisenregionen dieser Welt. Familien, die Pakete packen. Egal, ob Care-Pakete für Deutschland vor 50 Jahren, „Weihnachten im Schuhkarton“ für Osteuropa oder jetzt Hiflspakete für Haiti. Eine Welt, die durch diese Katastrophen enger zusammenrückt.
Aber – wie kommt da jetzt Gott ins Spiel?

Ich glaube, dass das Wort „Freiheit“ in diesem Zusammenhang sehr wichtig ist. Gott hat, so die Ur-Geschichte, schon Adam und Eva die Freiheit gelassen. Die Freiheit, auch gegen Gottes erklärten Willen vom Baum der Erkenntnis zu essen. Wie wäre es um unsere Freiheit bestellt, wenn Gott bei jeder Gelegenheit in unser Handeln eingreifen würde? Auch, wenn er damit Gutes in der Welt bewirken würde? Nein, das ist, so glaube ich, auch nicht der richtige Weg. Gott hat uns Freiheit geschenkt. Die Freiheit, selbst zu entscheiden, was wir tun können und wollen. Die Freiheit, diese Welt besser oder schlechter zu machen. Diese Freiheit sollten wir nutzen.

Mit dem Leid des menschlichen Lebens dagegen geht Gott ganz anders um als wir uns das vorstellen. Er nimmt es nicht weg. Nein. Er kommt mitten hinein. Er wird in Jesus selber ein Mensch. Erlebt das alles, von der vollen Windel übers Verratenwerden durch einen guten Freund bis hin zu einem sehr schmerzhaften Tod. Gott schafft das Leid nicht ab. Aber er ist dabei. Er ist da, in Haiti. Bei denen, die sterben. Bei denen, die alles verloren haben. Bei denen, die fürchterliche Schmerzen haben und auf Hilfe warten.

Natürlich hilft das der Mutter, die in einem eingestürzten Haus ihr Kind verloren hat, nicht wirklich weiter, ihr zu sagen: „Gott weiß, was du durchmachst.“ Aber vielleicht hilft es ihr, wenn Menschen, die den Glauben an die Güte Gottes noch nicht verloren haben, sie in den Arm nehmen, mit ihr trauern und vielleicht, wenn sie Christin ist, auch mit ihr beten. Vielleicht macht allein das schon unsere Welt wieder ein bisschen besser.
 

Wo war Gott in Haiti? Damit hat sich auf ThemaTisch befasst.

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