Ansprache beim MehrWegGottesdienst: Trauerblümchen
„Das Buch des Bereuens“. In dem Roman „Die Mitternachtsbibliothek“ liegt Nora irgendwo zwischen Leben und Tod. Und betritt eine Bibliothek voller Bücher. Jedes dieser Bücher enthält ihr Leben – aber jedes Buch ist anders. Denn es gibt unendlich viele dieser Leben, je nachdem, welche Entscheidungen sie einst getroffen hat. Hätte sie mal die Band nicht verlassen, als sie gerade einen Plattenvertrag in der Tasche hatten. Hätte sie mal nicht die Hochzeit gecancelt. Wäre sie mal mit ihrer Freundin nach Australien oder als Gletscherforscherin nach Alaska gegangen.
So, so vieles gab es in Noras Leben zu bereuen, das „Buch des Bereuens“, das einzige, das sozusagen eine Zusammenfassung ihres jetzigen Lebens beinhaltet, ist dick und schwer.
Vorhin hast du schon auf ein Blatt geschrieben, was du bereust. Was dir fehlt. Vielleicht gibt es auch noch Dinge, die dir zu privat waren, um sie darauf zu schreiben, aber in deinem Kopf sind sie.
Anders als Nora in dem Roman, haben wir nicht die Chance, verschiedene Varianten unseres Lebens auszuprobieren. Wir haben nur das eine. Und trotzdem bleibt manchmal die Frage: Was wäre gewesen, wenn …?
Manchmal ist da Trauer und Reue. Das Buch des Bereuens ist dick und schwer. Wie wäre dein Leben verlaufen, wenn du dich damals für einen anderen Partner, eine andere Partnerin entschieden hättest? Oder wenn du einen anderen Beruf gewählt hättest? Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie dein Leben aussehen würde? Und was das mit anderen gemacht hätte?
Viele Entscheidungen haben mich hier an diesen Ort geführt. Vieles, was ich auch hätte anders machen können. Hätte ich nur eine Entscheidung anders getroffen, wären wir alle heute nicht hier. Und du? Was würdest du genau heute tun, wenn es den MehrWegGottesdienst nicht gäbe?
Wohin würdest du gerne nochmal zurückgehen?
Welche Entscheidung würdest du eventuell anders treffen? Was macht dein Buch des Bereuens schwer?
Wo würdest du gerne zumindest aus Neugier mal das andere Lebensbuch ausprobieren, wenn dir so eine Mitternachtsbibliothek zur Verfügung stünde?
Welche Ereignisse gab es, die dein Leben beeinflusst haben – und auf die du keinen Einfluss hattest?
Manche Trauer, mancher Verlust ist groß und wiegt schwer.
Enttäuschung.
Angst vor dem Alleinsein.
Angst vor der Zukunft.
Angst vor dem Klimawandel oder der politischen Entwicklung.
Das Buch des Bereuens ist dick und schwer.
Worum trauerst du?
Welche Verluste belasten dich?
Was bereust du?
Trauer und Reue ist nicht immer leicht zuzulassen. Aber sie ist wichtig. In der Psychologie spricht man auch von Trauerarbeit. Heute am Volkstrauertag denken wir vor allem an die Toten der Weltkriege und aller Kriege. Und nächste Woche, am Ewigkeitssonntag, besonders an die Verstorbenen des letzten Jahres.
Trauer um Verluste ist nicht immer leicht. Manche zerbrechen daran, wenn sie keine Hilfe bekommen. Andere gehen gestärkt daraus hervor. Und deshalb ist es wichtig, darauf zu schauen:
Was gibt dir Zuversicht?
Was richtet dich auf?
Was löscht die Seiten in deinem Buch des Bereuens?
Für mich ist es die Zusage von Jesus, die auch mein Taufspruch ist: „Ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.“
Für Hiob, der in der biblischen Erzählung alles verlor, war es die Dankbarkeit dafür, was er einmal hatte und genießen konnte. „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt“, so lesen wir im Buch Hiob.
Ohne Leid, ohne Verluste, ohne falsche Entscheidungen, die wir bereuen – so blöd es klingt: Da wäre unser Leben ziemlich langweilig und oberflächlich.
Bleibt uns Hoffnung?
Ihr habt viele Hoffnungsgedanken aufgeschrieben.
Hier auf dem Altar liegt nun eine Hoffnungsblume. Ich lese ein paar von den Blättern vor …
Ja, wir haben Hoffnung. Trotz aller Trauer. Trotz aller Verluste: Gott ist da. Jesus ist bei uns. Zu ihm können wir gehen mit unserem Buch des Bereuens. Und er wird uns davon frei machen, eines Tages. Dann ist auch der Tod nur noch ein Übergang. In ein neues Leben. Ein neues, unbeschriebenes Buch. Ohne Reue. Ohne Angst. Voller Hoffnung.
Darum: Lasst uns hoffnungsvoll aus diesem Gottesdienst gehen.
Amen.