Bruder Judas

 

Predigt am Gründonnerstag

Gochsheim, 24.3.2005; Schonungen, 21.4.2011

Text: Mk 14, 17-26
Und am Abend kam er mit den Zwölfen. 18 Und als sie bei Tisch waren und aßen, sprach Jesus: Wahrlich, ich sage euch: Einer unter euch, der mit mir ißt, wird mich verraten. 19 Und sie wurden traurig und fragten ihn, einer nach dem andern: Bin ich's? 20 Er aber sprach zu ihnen: Einer von den Zwölfen, der mit mir seinen Bissen in die Schüssel taucht. 21 Der Menschensohn geht zwar hin, wie von ihm geschrieben steht; weh aber dem Menschen, durch den der Menschensohn verraten wird! Es wäre für diesen Menschen besser, wenn er nie geboren wäre.
22 Und als sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach's und gab's ihnen und sprach: Nehmet; das ist mein Leib. 23 Und er nahm den Kelch, dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus. 24 Und er sprach zu ihnen: Das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird. 25 Wahrlich, ich sage euch, dass ich nicht mehr trinken werde vom Gewächs des Weinstocks bis an den Tag, an dem ich aufs neue davon trinke im Reich Gottes. 26 Und als sie den Lobgesang gesungen hatten, gingen sie hinaus an den Ölberg.

Liebe Gemeinde!
(2005: Die SPD in Kiel sucht den Verräter. Den, der bei der Wahl der Ministerpräsidentin nicht für Heide Simonis gestimmt hat. Den, der die geplante Regierung zu Fall gebracht hat.)

(2011: Rainer Brüderle ist der Verräter. ER ist der, der ausgesprochen haben soll, was eigentlich eh schon alle dachten: Dass das Atom-Moratorium nur wegen des Wahlkamps in Kraft gesetzt wurde. Und ein anderer musste dann dafür gehen.)

„Der ist schuld!“ heißt es schnell in solchen Fällen. Und manchmal ist es vielleicht ganz gut, gar nicht zu erfahren, wer wirklich schuld war. Denn ihm droht nichts Gutes. Wenn einer das Vertrauen des anderen missbraucht für seine eigenen Zwecke, wenn einer nach außen schön tut und dann aber anders handelt; wenn einer nach außen gut Freund ist und in Wirklichkeit der größte Feind: So etwas erleben wir immer wieder. Solche Judasse, solche Verräter, gibt es auf der ganzen Welt. „Das verzeih ich dem nie!“ - wie oft haben wir schon diesen Satz gedacht oder gesagt.

Mir sind dabei Gedanken gekommen an eine Zeit, die die meisten von uns noch in irgendeiner Form kennen; unsere Konfirmanden aber schon nicht mehr. Die Zeit, als es noch eine DDR gab, eine Mauer, eine mit Selbstschussanlagen gesicherte Grenze. Als Kind bin ich oft „rüber“ gefahren, denn wir hatten Verwandte in Ostberlin. Immer war da, vor allem bei Regimekritikern, die Angst mit dabei. Die Angst vor der Stasi, vor den Spitzeln, die überall lauerten.

Nun ist die DDR Geschichte. Aber die Menschen, die damals andere bespitzelt haben, sie leben immer noch. Sie müssen mit ihrer Geschichte leben, und mit den Menschen, die sie früher einmal bespitzelt haben. Wie soll man mit diesen Menschen umgehen? Bist heute ist das eine schwierige Frage. Ein Liedermacher aus Ostberlin, Gerhard Schöne, hat 1990, kurz nach der Wende, eine Antwort versucht auf diese Frage. „Setz dich zu mir, Bruder Judas!“ Lassen Sie uns einmal auf dieses Lied hören.

BRUDER JUDAS
(1990) T: Schöne/M: Plüss
Setz dich zu mir, Bruder Judas. Nimm vom Hals das Seil! Wisch die Tränen von den Wangen, 's ist genug kaputt gegangen und wird nicht mehr heil.
Mißtraun hast du wie ein Unkraut
zwischen uns gestreut.
Jugend aus dem Land getrieben,
eingelocht und aufgerieben
viele gute Leut'.
Schriebst ins Klassenbuch Notizen
über jedes Kind.
Lehrtest mit zwei Zungen reden,
petzen, heucheln, leise treten, 's Mäntelchen im Wind.
Trankst als einer meiner Freunde Brüderschaft mit mir. Hast in meiner Post gelesen, hinterm Telefon gesessen, gingst durch meine Tür.
Dann verfaßtest du Berichte, knüpftest einen Strick. Daraus wuchs ein Netz von Schlingen. Manchen, die sich drin verfingen, brach es das Genick.
Und ich war auch dein Komplize.
Gab dir lange Zeit
durch mein Schweigen und mein Dulden
eines jeden Mitverschulden
solche Sicherheit.
Dich hat der Verrat zerfressen.
Freundschaft ist ein Hohn.
Die Gedanken sind verdorben,
dein Gewissen fast gestorben
für den Silberlohn.
Schutzlos stehst du jetzt am Pranger.
Man darf dich bespei'n.
Die sonst nie den Mund auftaten,
niemals aus dem Schatten traten,
werfen ihren Stein.
Nimm ein heißes Bad und schrubb' dich! Bist noch lang nicht rein. Lern bereu'n, ich lern vergeben, müssen doch zusammen leben, Judas, Brüderlein.

„Setz dich zu mir, Bruder Judas!   Lern bereu'n, ich lern vergeben, müssen doch zusammen leben, Judas, Brüderlein.“

Wer würde denn so reagieren, wenn er erfährt, dass ihn einer verrät? Wer würde so, voller Verständnis, auf den anderen zugehen? Das ist doch schon fast unmenschlich, was Gerhard Schöne hier besingt. Und doch ist es genau das, was auch Jesus tut und sagt: Setz dich zu mir, Bruder Judas! Mit allen feiert er das Sedermahl, das Mahl am Passah-Abend. Auch mit dem, der ihn verraten wird. Und mit Petrus, der ihn am nächsten Tag dreimal verleugnen wird. Mit seinen Jüngern, die in dieser Nacht einschlafen werden, wo er sie doch so dringend gebrauchen könnte, damit sie mit ihm diese Nacht durchwachen und mit ihm beten. Jesus lädt sie alle an seinen Tisch. Alle diese Verräter und Versager. Alle sind sie bei ihm willkommen, denn was er will, das ist nicht Streit, sondern Versöhnung. Gemeinsam Brot essen und Wein trinken, das bindet zusammen. Das schafft Gemeinschaft. Alle lädt er ein.

Ich weiß es nicht mehr genau, ich denke, es war ein Satz von Dietrich Bonhoeffer. Auf jeden Fall stammte es aus der Zeit des Dritten Reichs, diese Beschreibung des Abendmahls: Da stehen der Kriegstreiber und der Pazifist nebeneinander. Im normalen Leben die absoluten Gegner, die sich vielleicht nicht einmal die Hand geben würden – doch im Abendmahl sind sie alle vereint, versöhnt. Jesus Christus bringt sie zusammen, bringt sie zurück an einen Tisch. Und wenn wir sein Mahl ernst nehmen, dann können wir anschließend auch nicht mehr einander verachten. Wir gehören zusammen. Das Mahl Jesu, es versöhnt uns und verbindet uns. „Setz dich zu mir, Bruder Judas!“ Auch ich habe Fehler. Auch ich weiß, dass ich die Liebe Gottes eigentlich nie verdient hätte. Auch ich bin auf Gottes Gnade angewiesen, genauso wie du. Dadurch werden die Fehler, die wir haben, nicht einfach ungeschehen gemacht. Aber sie entzweien uns nicht mehr voneinander. Jesus lädt uns, vor seinem Tod, ein zu seinem Mahl der Versöhnung und des Friedens. Daran lasst uns denken, wenn wir jetzt gemeinsam tun, wie er es uns geboten hat. 

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere menschliche Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.