Die Kühltürme sind weg - das Senfkorn ist noch da
Diese Andacht heute ist anders als alle vorher. Denn: Letztes Jahr standen hier drüben noch die Kühltürme, sichtbarstes Zeichen für das, was hier bis vor einigen Jahren passiert ist. Und gleichzeitig eine Erinnerung daran, dass hier Atommüll gelagert wird, der unsere Nachfahren noch in Hunderten von Generationen beschäftigen wird, wenn es sie denn geben sollte.
Die Türme sind weg. Endlich. Ein Zeichen: Dinge können sich verändern.
Seit 1972 hat die Bürgeraktion gegen das Kraftwerk protestiert. Und vor 39 Jahren, nach Tschernobyl, wurde daraus die BA-BI. Jahrzehntelang habt ihr den Protest aufrechterhalten. Diese Andachten organisiert. Viele weitere Aktionen durchgeführt. Und überall in Deutschland gab es ähnliche Initiativen.
Oft sah das aus wie ein Kampf gegen Windmühlenflügel. David gegen Goliath. Aber heute ist klar: Trotz aller konservativer und vor allem rechtsextremer Rufe – Kernkraft in Deutschland ist vorbei. Wir werden unseren Urururenkeln nicht noch mehr Sorgen aufbürden, als wir das sowieso schon getan haben. Wir werden unseren Strom anders produzieren. Aus Erneuerbaren Energien, aus Sonne, Wind und Wasserkraft. Die Kühltürme waren ein Zeichen einer alten Welt. Sie sind weg.
Manchmal schien es aussichtslos zu sein. Aber jetzt sind wir hier, die Türme sind weg.
Ich musste an ein kleines Gleichnis von Jesus denken, das lese ich jetzt einmal vor:
Markus 4, 30-32
30Dann fragte Jesus:
»Womit sollen wir das Reich Gottes vergleichen?
Mit welchem Gleichnis können wir es beschreiben?
31Es ist wie bei einem Senfkorn:
Wenn es in die Erde gesät wird,
ist es das kleinste aller Samenkörner,
die ausgesät werden.
32Aber wenn es ausgesät ist,
geht es auf und wird größer als alle Sträucher.
Es bringt so große Zweige hervor,
dass die Vögel in seinem Schatten ihr Nest bauen können.«
OK, botanisch ist nicht so ganz klar, was Jesus da eigentlich gemeint hat. Ja, das Senfkorn ist winzig, ein großer Baum wird’s aber in der Regel nicht, eher ein Busch, aber je nach Sorte kann der auch ganz schön groß werden.
Ein bisschen wie mit der BA-BI. Botanisch nicht so ganz klar, was das jetzt eigentlich ist. Ursprünglich ein ganz kleines Senfkorn. Und doch: Gemeinsam mit vielen anderen ist es geschafft! Das Ziel ist erreicht. Wenigstens ein Teil davon. Die Türme sind weg. Kein Atomstrom wird in Deutschland mehr prodiziert.
Das Senfkorn ist „kleiner als alle Samen“ – wie unsere Schritte im Umweltschutz oft klein erscheinen. Und doch: Die gesprengten Kühltürme stehen plötzlich für Jahrzehnte des Protests, der Diskussionen, der Ausdauer. Ein Zeichen: Hier wächst etwas Neues. Die Mühen haben sich gelohnt. Ja, wir können was bewirken. Veränderung ist möglich – gegen das Gefühl von Ohnmacht.
Ich hab dann mal ChatGPT zum Senfkorn befragt und unter anderem diese Sätze bekommen, die ich wirklich spannend fand:
„Senfpflanzen waren im antiken Palästina eher Unkraut: schnellwachsend, wuchernd, schwer zu kontrollieren.
Jesu Bild ist subversiv: Das Reich Gottes beginnt nicht „ordentlich“, sondern mit etwas Wildem, Ungeplantem – wie ziviler Ungehorsam, Mahnwachen, Plakate an Zäunen.
Vielleicht ist das Senfkorn nicht ein nettes Pflänzchen, sondern ein Störfall im System – ein heiliger Zwischenruf?“
Das finde ich klasse. So möchte ich gerne sein. Überall, wo Dinge falsch laufen. Überall, wo die Mächtigen ihren Willen durchsetzen wollen. Überall, wo die Armen unterdrückt werden. Überall, wo unsere Zukunft gefährdet wird: Senfkorn sein.
Wie Unkraut sein. Schwer zu kontrollieren. Ein heiliger Zwischenruf, ein Störfall im System.
Unsere neue Bundestagspräsidentin meinte ja, die Kirchen sollten weniger politisch sein und sich mehr ums Seelenheil kümmern und so. Tut mir Leid, Frau Klöckner: Alles, wirklich alles, was zum Leben gehört, gehört auch zum Leben von Christ*innen.
Das ist unser Auftrag: Auf der Seite derer zu sein, denen es nicht so gut geht. Auf der Seite derer zu sein, die für eine bessere Welt kämpfen. Ob das nun Flüchtlingsbetreuung ist oder der Einsatz fürs Tempolimit, Anti-Atom oder Pro-Erneuerbare. Ob es um eine Verkehrspolitik geht, die die Menschen in den Mittelpunkt stellt statt der Autos, oder um den Einsatz für die, die finanziell oder psychisch nicht mehr über die Runden kommen. Ist alles politisch, ist alles aber das, was meinen Glauben ausmacht, Frau Klöckner.
Christsein ist hochpolitisch, denn es geht ums menschenwürdige Leben.
Noch einen Gedanken hat ChatGPT gehabt, den ich euch nicht vorenthalten will:
„Senf hat Schärfe. Man schmeckt ihn. Er bleibt nicht unbemerkt.
Vielleicht sind wir als Christ:innen gerufen, eben kein lauwarmer Kompromiss zu sein – sondern spürbar.
Das Senfkorn ist dann ein Bild für geistliche Schärfe: kritisch, unbequem, aber heilsam.“
Das will ich sein als Christ: Scharf, aber ohne zu verletzen. Kritisch, ohne zu verdammen. Unbequem, aber heilsam. Und immer voller Hoffnung, dass am Ende doch das Wort Gottes stehen wird, das in der uralten Erzählung von der Schöpfung auch am Anfang stand:
„Und siehe, es war sehr gut“.
Was wir dazu beitragen können, tragen wir bei. Manchmal scheint es viel zu wenig zu sein – und dann ist es doch so viel. Aus dem kleinen Senfkorn Atom-Widerstand ist ja auch ein großer Baum gewachsen: Über sechzig Prozent Erneuerbare Energien schon heute. Das deutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz haben zig Staaten weltweit kopiert und damit die Grundlage für eine neue Energieversorgung gelegt.
Eine neue Welt wächst da heran, allen Angriffen zum Trotz: Eine Welt, in der die Vögel wieder in den Zweigen nisten können. Eine Welt im Einklang mit der Natur. Eine Welt, in der niemand, der in Not ist, zurückgelassen wird.
Eine Welt, von der auch wir im Rückblick sagen können:
Und siehe, es war sehr gut.
Amen.