Predigt: Die Liebe bleibt

Liebe Gemeinde!

Es heißt, am Ende des Lebens ziehe bei vielen noch einmal das ganze Leben an einem vorbei. All die schönen Dinge, all die schlechten, alle Versäumnisse und alles, was mir gut gelungen ist. Die liebevollen Momente und die hässlichen. Die fröhlichen und die traurigen Zeiten, einfach alles.

Und dann kommt die Frage: War es gut? War das, dein Leben, ein gutes? Wonach hast du es ausgerichtet, was waren deine Ziele, wie hast du diese Welt zu einer besseren gemacht – für andere?

Wie sähe Ihre Antwort aus auf diese Frage, wenn sie jetzt, ganz plötzlich, käme? Hatte Ihr Leben bis heute einen Sinn? War es gut? Gibt es Menschen, die dankbar sind dafür, dass es Sie gibt?

Puh. Mal wieder einen Schritt zurücktreten. Fragen wir mal: Was wären denn Kriterien für ein „gutes“ Leben? Welche Regeln, welche Maßstäbe sollten für mein Leben gelten, damit ich am Ende zufrieden darauf zurückblicken kann und gewissermaßen sagen kann: Siehe, es war sehr gut?

Manches haben wir nicht in der Hand, das ist klar. Krankheiten, Schicksalsschläge, alle diese Dinge. Und doch gibt es Menschen, die sind im größten Unglück fröhlich und zufrieden und andere, denen geht es äußerlich gut, aber trotzdem sind sie traurig und unzufrieden.

Was treibt die an, die glücklich sind? Was ist das höchste Gebot für ein gutes, zufriedenes Leben? Wonach soll ich mein Leben ausrichten?

Genau diese Frage stellt ein junger, gelehrter Mann einmal. Die Frage – und die Antwort darauf – ist unser heutiger Predigttext. Ich lese ihn in der Übersetzung der BasisBibel:

Mk 12, 28-34
28 Ein Schriftgelehrter war dazugekommen
und hatte die Auseinandersetzung mit angehört.
Als er merkte, wie treffend Jesus
den Sadduzäern geantwortet hatte,
fragte er ihn:
»Welches Gebot ist das wichtigste von allen?«
29 Jesus antwortete:
»Das wichtigste Gebot ist dieses:
›Höre, Israel!
Der Herr ist unser Gott,
der Herr allein.
30 Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben
mit deinem ganzen Herzen,
mit deiner ganzen Seele,
mit deinem ganzen Willen
und mit deiner ganzen Kraft.‹
31 Das zweite ist:
›Liebe deinen Mitmenschen wie dich selbst.‹
Kein anderes Gebot ist wichtiger
als diese beiden.«
32 Da antwortete ihm der Schriftgelehrte:
»Ja, Lehrer,
du sagst die Wahrheit:
›Einer ist Gott,
und es gibt keinen anderen Gott außer ihm.
33 Ihn zu lieben
mit ganzem Herzen,
mit ganzem Verstand
und mit ganzer Kraft
und seinen Mitmenschen zu lieben wie sich selbst‹,
das ist viel wichtiger
als alle Brandopfer und anderen Opfer.«
34 Als Jesus merkte,
mit wie viel Einsicht der Schriftgelehrte geantwortet hatte,
sagte er zu ihm:
»Du bist nicht weit weg vom Reich Gottes.«
Von da an wagte es niemand mehr,
Jesus etwas zu fragen.

Natürlich kennen Sie diesen Text. Das berühmte „Doppelgebot der Liebe“, das doch eigentlich, wenn man genau hinschaut, ein Dreifachgebot ist. Und ich glaube, genau in diesem Dreifachgebot liegt der Schlüssel dazu, ein gutes, ein erfülltes und, ja, gottgefälliges Leben zu führen:

  1. Du sollst Gott lieben
  2. und deinen Nächsten
  3. wie dich selbst.

Heute sollte natürlich der Schwerpunkt auf dem ersten liegen, denn das ist vermutlich der Grund, warum unser Predigttext ausgerechnet am Israelsonntag dran ist. Denn Jesus zitiert hier nicht irgend einen Bibeltext, sondern das „Schma Jisrael“, das Glaubensbekenntnis der Israeliten. Jeden Tag morgens und abends rezitieren fromme Juden diese Sätze: 

„4 Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. 5 Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft.“

Es ist das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis, das Jesus hier an die erste Stelle stellt. Gott der Herr ist einzig, und du sollst ihn lieben mit allem, was du hast.

Immer wieder in der Geschichte wurden die Juden verfolgt, ihre Religion verächtlich gemacht, wurden Juden wegen ihres Glaubens ermordet, millionenfach im „Deutschen Reich“, aber auch schon vorher. Und auch heute gibt es wieder Gegenden auch bei uns in Deutschland, in denen Juden geraten wird, besser nicht mit Kippa auf die Straße zu gehen. Und nein, das sind nicht alles Ausländer, die die Juden da bedrohen. Das sind Menschen, die behaupten, sie würden unser christliches Abendland verteidigen. Dabei tun sie genau das Gegenteil. Denn das Jesus diesen Satz, das zentrale Glaubensbekenntnis des Judentums, hier an die erste Stelle setzt, das zeigt doch überdeutlich: Der jüdische Gott ist unser Gott. Wir stehen gemeinsam vor dem gleichen Herrn. Wir haben gemeinsame Wurzeln, so sehr wir uns dann auch in anderen Punkten unterscheiden. Jesus hat uns einen anderen Blick auf diesen Gott verschafft. Aber wir alle sind aufgefordert, diesen einen Gott zu lieben und zu verehren, mit ganzem Herzen, ganzer Seele und ganzer Kraft.

Wenn wir Christinnen und Christen in den zweitausend Jahren seit Jesus nur diese eine Erkenntnis ernst genommen hätten – ich glaube, unsere Welt sähe heute sehr viel anders aus. Dann hätten nicht nur die Pogrome im Mittelalter, sondern vor allem auch Hitler keine Chance gehabt.

Oder doch? Wenn ich heute auf Facebook gehe und sehe, mit wie viel Häme und Hass da kommentiert wird, wie sehr da alle Grenzen des Anstands überschritten werden – dann bekomme ich Angst. Unsere Humanität, unsere Mitmenschlichkeit, alles das scheint nur eine dünne Schicht zu sein. Und darunter brodelt es bei vielen. Und dann ist es schon fast egal, ob es heute gegen die Juden geht, gegen die angeblich viel zu vielen Ausländer oder beispielsweise gegen Greta Thunberg, die doch nichts anderes tut als zu fordern: Hört auf die Klimaforscher! Der Hass, die abwertendenden Kommentare ergießen sich über alles, was irgendwie „anders“ ist und die eigene Lebensweise in Frage stellt.

Hass, Verachtung, Häme erlebe ich jeden Tag auf Facebook und anderswo. Doch Jesus sagt: 4 Höre, Israel! Der HERR, unser Gott, der HERR ist einzig. 5 Darum sollst du den HERRN, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. 

Wer Gott so liebt wie Jesus es hier fordert, der kann gar nicht anders, als seinen Mitmenschen ebenfalls mit Liebe zu begegnen: Du sollst deinen Nächsten lieben. Oder besser, wie es die Basisbibel übersetzt: Deinen Mitmenschen. Nicht, dass wieder jemand auf die Idee kommt und meint, er müsse nur die lieben, die im Umkreis von 5 Metern um ihn herum stehen oder so. Und Mitmenschen heißt: Alle. Ja, alle. Auch die, die ganz besonders nervig sind. Auch die, die uns nicht mit Liebe begegnen, sondern eben mit Hass. Auch die, die uns Böses wollen. Eine ziemlich große Gruppe im Internet versucht das. Sie nennen sich #ichbinhier und versuchen, den Hasskommentaren positive Kommentare entgegenzustellen. Also quasi dem Hass mit Liebe zu begegnen. Und was soll ich sagen – ziemlich oft schaffen sie es, die Stimmung zu drehen. Aber es ist halt immer nur punktuell, ein Tropfen auf den heißen Stein.

Liebe deine Mitmenschen. Das heißt für mich ganz klar auch: Tu, was in deiner Macht steht, damit es ihnen gut geht. Und, ganz ehrlich: Davon sind wir weit entfernt. Schon in unseren Land gibt es Menschen, die in bitterer Armut leben und jeden Cent dreimal umdrehen müssen. Seit Jahrzehnten wissen wir vom Hunger weltweit und haben doch nur kleine Schritte geschafft. Und auch schon seit Jahrzehnten ist bekannt, was erst jetzt in unser Bewusstsein rückt: Dass wir nicht so weitermachen können wie bisher, weil wir damit die Lebensgrundlage unserer Kinder und Enkel zerstören. Fridays for future macht es uns klar. Und auch für uns Christinnen und Christen sollte es ganz klar sein: Wir haben den Auftrag, die Erde zu bebauen und zu bewahren. Wir können nicht einfach sagen „nach uns die Sintflut“. Was können wir denn tun? Wir selbst, wir als Familien, wir als Kirchengemeinden, als politische Gemeinden, unser Staat? Unser Dekanat hat schon im März eine Stellungnahme herausgebracht und sich hinter Fridays for Future gestellt. Und für den 20. September fordern die Jugendlichen alle Menschen auf der Welt auf, sich an einem großen Aktionstag zu beteiligen. Aber nur Aktionen allein helfen nichts – wir müssen vieles verändern, um diese wunderbare Schöpfung Gottes zu bebauen und zu bewahren.

Liebe deinen Mitmenschen. Das ist eben mehr als nur ein schönes Gefühl. Das ist: aufmerksam sein für dessen Bedürfnisse, das ist da sein, das ist auch teilen, selbst wenn‘s mir selber dann fehlt.

Aber dann ist da aber auch noch dieses letzte: „wie dich selbst“. Also: Liebe dich auch selbst. Pass auf dich auf. Überfordere dich nicht. Achte auf deine eigenen Bedürfnisse. Aber vor allem: Sei überzeugt davon, dass du in Gottes Augen geliebt bist. Dass du einzigartig bist. Dass du es wert bist, geliebt zu sein.

Liebe Gott, liebe deinen Mitmenschen, liebe dich selbst. Der Fragesteller aus unserem Predigttext hatte vermutlich eher eine Zahl erwartet, die sich auf eines der Zehn Gebote bezieht. Also „das erste“ oder meinetwegen „das achte Gebot“. Aber ich finde, Jesus hat recht: Alle diese Gebote münden doch in diesem einen: Der Liebe.

Wenn wir das beherzigen, dann kann, so hoffe ich, auch unsere so hasserfüllte und bedrohte Welt zu einem Ort der Friedens und der Versöhnung werden. Dann werden wir es schaffen, den Hasskommentaren im Netz und auf der Straße die Liebe entgegenzusetzen. Dann werden wir es schaffen, diese wunderbare Welt für die kommenden Generationen zu erhalten, auch wenn das für uns selbst mit Einschränkungen verbunden ist. Dann werden wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass kein Mensch mehr fliehen und kein Mensch mehr hungern muss. Mit Gottes Hilfe. Die Liebe bleibt.

Amen.