Jahrzehnte, die Jahrtausende prägen

Ansprache zur Andacht zum 36. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe

Bergrheinfeld/Wegkreuz, 24.4.2022

Ich habe jetzt wirklich lange überlegt, welchen Bibeltext ich für meine Ansprache heute wählen soll. Schließlich laufen die Andachten hier am Atomkraftwerk schon seit geraumer Zeit, mein letzter Beitrag dazu war vor ziemlich genau 15 Jahren. Und die Stelle aus der biblischen Schöpfungsgeschichte, wo Gott den Menschen aufträgt, die Erde zu bebauen und zu bewahren – die ist hier an diesem Ort vermutlich schon total abgedroschen, nein, das kann ich heute nicht nehmen. Da sind wir uns ja sowieso einig, dass wir von diesem Anspruch weit entfernt sind.

Eines ist völlig klar und wird noch deutlicher, wenn wir hier direkt an diesem Kernkraftwerk stehen: Was wir heute tun, was wir in den letzten Jahrzehnten getan haben, das wird nicht morgen vorbei sein. Der Atommüll wird weiter strahlen, für Jahrtausende und länger. Die Folgen unseres CO2-Ausstoßes im letzten Jahrhundert werden das Weltklima auf Jahrhunderte verändern und tun es schon. Das von uns verursachte weltweite Artensterben ist nicht mehr umkehrbar.

Christian Lindner hat neulich gesagt: „Es gibt Wochen, die Dekaden prägen“, die also Auswirkungen auf die nächsten Jahrzehnte haben. Ihm ging es wohl vor allem um die Wirtschaft und vermutlich auch um den Ukraine-Krieg. Aber ich glaube, das ist noch viel zu kurz gedacht: Es gibt Jahrzehnte, die Jahrtausende prägen – und wir sind mitten drin. Wir prägen sie.

Zweiter Versuch, einen Bibeltext zu finden: Am Ende der Sintflut-Erzählung verspricht Gott dem Noah: „Solange die Erde steht soll nicht aufhören Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht. “ (1. Mos. 8, 22)
Ehrlich gesagt – nicht mal das scheint mir mehr sicher zu sein.  Wird es in 20, 30 Jahren hier bei uns noch den Wechsel von Frost und Hitze geben, wie wir ihn kennen? Werden wir noch säen und ernten können? Werden unsere Enkel noch Schnee kennen und Schlitten fahren, hier vor unserer Haustür?

Nein, das ist mir zu düster, auch wenn es vermutlich die Zukunft unserer Welt recht realistisch beschreibt.

Irgendwie blieb ich schließlich an einem ziemlich bekannten Satz hängen, auch wenn er eigentlich in einen ganz anderen Zusammenhang gehört. Der 90. Psalm aus dem großen Gebetbuch des Volks Israel beschreibt, wie klein wir Menschen doch eigentlich sind. Dass unser persönlicher Beitrag zur großen Erdgeschichte doch etwas Kurzes, Vergängliches ist. „Unser Leben währt 70 Jahre, wenn’s hoch kommt 80“. Auch ein bekanntes Bibelzitat. Aber grade im Blick auf die langen, langen Auswirkungen von Atomkraft, von CO2-Ausstoß und so vielem anderen bin ich vor allem an diesem Satz hängen geblieben, der an Gott gerichtet ist:

„Tausend Jahre vergehen vor deinen Augen,
als wäre es gestern gewesen.“

Passt irgendwie auch zum Atommüll.

Im Zusammenhang mit der großen Bedrohung der Welt, die wir kennen, ist dieser Psalm für mich zweierlei: Erst einmal ein Trost, dass ich kleiner Mensch nicht alles bin, dass nicht alles an mir alleine hängt.

Der Psalm redet aber auch vom Zorn Gottes darüber, was wir tun, wie wir unser Leben gestalten. Und er fleht Gott an, doch einzuschreiten – und redet von der Hoffnung, dass Gott uns retten wird.

Das ist für mich jedenfalls kein „OK, dann können wir ja die Hände in den Schoß legen, Gott wird’s schon richten“. Ganz im Gegenteil: Wir Menschen, alle gemeinsam, sind da in der Pflicht. Wir alle gemeinsam müssen dafür sorgen, dass wir diese Welt so erhalten, dass auch unsere Kinder, unsere Enkel, unsere Ururenkel noch gut darauf leben können.

Der 90. Psalm ist eigentlich ein Gebet eines einzelnen Menschen, der darüber nachsinnt, was der Sinn des Lebens ist und was er oder sie selbst zur Welt beiträgt. Aber heute mag ich es mal anders verstehen: Als Gebet der ganzen Menschheit, die angesichts der vielfältigen Bedrohungen der Welt zu Gott fleht, uns zu retten.

Am Ende steht auch nicht: „Gott, mach du mal, wir haben’s vergeigt, jetzt bist du dran!“ Am Ende, als letzter Satz des Psalms, steht: „Lass das Werk unserer Hände gelingen!“. Für mich heißt das heute: Lass all unsere Bemühungen um Frieden, um Bewahrung der Schöpfung, um Gerechtigkeit zu einem guten Ende kommen. Hilf uns, die Welt zu bewahren.

Zweieinhalb Jahrtausende ist dieser Text alt, mindestens. Und ist doch heute noch so aktuell. Ich lese ihn in einer aktuellen Übersetzung aus der BasisBibel.

Herr, ein Versteck bist du für uns gewesen
von Generation zu Generation.

2 Die Berge waren noch nicht geboren,
die ganze Welt lag in Geburtswehen.
Da bist du, Gott, schon da gewesen,
vom ersten Anfang bis in alle Zukunft.

3 Du bringst die Menschen zurück zum Staub.
Andere rufst du ins Leben und sprichst:
Kommt zur Welt, ihr Menschenkinder!

4 Denn tausend Jahre vergehen vor deinen Augen,
als wäre es gestern gewesen.
Sie gehen so schnell vorbei wie eine Nachtwache.

5 Du reißt die Menschen aus dem Leben,
sie vergehen wie der Schlaf.
Sie sind nichts weiter als Gras,
das am Morgen zu wachsen beginnt.

6 Am Morgen blüht es und wächst hoch,
am Abend wird es geschnitten und welkt.

7 Ja, durch deinen Zorn schwand unsere Lebenskraft,
deine Wut ließ uns zu Tode erschrecken.

8 Du hast dir unsere Vergehen vorgenommen.
Und was wir vor dir verbergen wollten,
hast du ins Licht deines Angesichts gestellt.

9 Ja, unsere Lebenszeit verging durch deinen Zorn,
wir verbrachten unsere Jahre wie einen Seufzer.

10 Unser Leben dauert etwa 70 Jahre,
und wenn wir bei Kräften sind, auch 80 Jahre.
Das meiste daran ist nur Arbeit und vergebliche Mühe.
Schnell ist es vorüber, im Flug sind wir dahin.

11 Wer weiß schon, wie mächtig dein Zorn ist?
Und wer kann ermessen, wie wütend du bist?

12 Lass uns begreifen, welche Zeit wir zum Leben haben –
damit wir klug werden und es vernünftig gestalten.

13 Herr, wende dich uns wieder zu!
Wie lange willst du noch zornig sein?
Hab Mitleid mit deinen Knechten!

14 Schenk uns doch schon am Morgen
die ganze Fülle deiner Güte!
So wollen wir jubeln und uns freuen
alle Tage unseres Lebens.

15 Mach uns so viele Tage wieder froh,
wie du uns zuvor niedergedrückt hast.
Schenk uns so viele gute Jahre,
wie wir zuvor Unglück erfahren haben.

16 Zeig an deinen Knechten deine Macht
und an ihren Kindern deine Herrlichkeit!

17 So soll sich an uns erweisen,
wie freundlich der Herr ist, unser Gott!
Lass das Werk unserer Hände gelingen!
Ja, das Werk unserer Hände, lass es gelingen!